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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0289

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IV. Die griechische Kunst in ihrem Streben nach äusserer Wahrheit.

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hindert. Diese ihre Function und Bedeutung- allein ist es, in welcher sie von
der Kunst berücksichtigt und behandelt zu werden verdient. Einen bei weitem
grösseren Anspruch aber macht sie in dem über der Natur geformten Abgüsse.
Hier erscheinen alle Zufälligkeiten, und, weil sie ohne Bedeutung für Geist und
Handeln der dargestellten Person sind, müssen sie in dem leblosen Stoffe weit
unangenehmer und hässlicher wirken, als im Leben, wo sie im Flusse der Be-
wegung sich der Aufmerksamkeit mehr entziehen. Hier zeigen sich ferner
eine Menge von Einzelnheiten, welche, ich möchte kaum sagen, für den ani-
malischen Lebensprocess, sondern allein für das Vegetiren des Körpers Be-
deutung haben. Da diese aber wesentlich durch den Stoff, die Fügung und
Zusammensetzung, die Textur desselben bedingt sind, so müssen sie, in einen
anderen Stoff und in eine feste Form übertragen, einen von der Wirklichkeit
st:iir verschiedenen Eindruck hervorbringen. Wir erblicken im Abdrucke die
Oberfläche des Körpers in Erstarrung und in Folge dessen Leben und Bewegung
aller übrigen Theile gehemmt und ertödtet. Weit entfernt also, »ins ein ge-
treues und wahres Bild der vollen Persönlichkeit zu gewähren, bietet uns der
Abdruck nichts als ein Abbild der Hülle derselben in ihrer äusserlichsten phy-
sischen Beschaffenheit ohne Geist und Leben. Die künstlerischen Forderungen
höherer Art bleiben daher sämmtlich unbefriedigt, und an die Stelle einer
höheren Naturwahrheit tritt nichts , als was Plinius als Eigentümlichkeit des
Lysistratos hervorhebt: similitudines, eine Aehnlichkeit in den Einzelnheiten 407
der äusseren Erscheinung, welche nur dem niederen Sinne als ein Verdienst
erscheinen kann >).

Wir haben demnach die Bestrebungen des Lysistratos nicht anders als
verfehlt nennen können. Dieses strenge Urtheil dürfen wir indessen vom ge-
schichtlichen Standpunkte aus einigermassen mildern. Ich möchte es eine
historische Notwendigkeit nennen, dass sich die Richtung dieser ganzen Epoche
auf äussere Wahrheit einmal bis zu ihrem Endpunkte entwickeln musste, um
das Gefährliche derselben klar erkennen zu lassen. Diesen Versuch wagte Ly-
sistratos; wohl aber ist es möglich, dass er es bei dem Versuche bewenden
liess. Wenigstens finden wir keine Spuren, dass man weiter an dem Gedanken
festgehalten habe, einen Abklatsch der Natur an die Stelle der Kunstwerke
setzen zu wollen. Wohl aber scheint die Erfindung des Abformens über dem
Leben in anderer Beziehung einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt zu haben.
In der folgenden Zeit, in welcher die Gymnastik die hohe Bedeutung verlor,
welche sie früher für das gesammte Leben der Hellenen, und namentlich für
die bildende Kunst gehabt hatte, war nun ein neues Hülfsmittel für das Studium
des menschlichen Körpers gegeben, zwar nur ein schwacher Ersatz für das
wirkliche, bewegte Leben; aber doch ein Ersatz, welcher der weniger aus leben-
diger Phantasie, als aus ruhiger, allseitiger Ueberlegung schaffenden Kunst
der folgenden Epoche wesentlich förderlich sein musste. Namentlich möchte es

*) Richtig bemerkt A. W. v. Schlegel (Sämmtl. W. IX. S. 161) über einige moderne,
mit Hülfe des Abformens entstandene Büsten: „Freilich bekommt bei dieser widerwärtigen
Operation der Mund etwas Gekniffenes, die ganze Miene wird peinlich, dio fleischigen Par-
tien werden platt gedrückt u. s. w., so dass bei dem Nacharbeiten Leben und Bewegung
gleichsam nur wie eine Schminke auf die todte Masse aufgetragen werden muss."
 
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