Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0324

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
320

Die Bildhauer.

den Schultern der ersten; zugleich aher führte jeder von ihnen einen neuen
Gedanken in die Kunst ein, dessen selbständige Verarbeitung und Durchbildung
einem jeden erst seine bestimmte Stellung in der Geschichte der griechischen
Kunst sicherte: so Skopas das Pathetische, Praxiteles das Reizende der äusseren
Erscheinung, Lysipp die neue Proportionslehre u. a. In diesen bestimmten
Kreisen berühren sie sich einander wenig, vielmehr ist ein jeder eben auf die
Entwickelung seines besonderen Princips bedacht. Die Frage nun. ob die Be-
deutung der pergamenischen Schule in ähnlicher Weise auf der Einführung
eines neuen Princips beruhe, lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten
auch verschieden beantworten. Es würde nicht schwer sein, nachzuweisen, wie
alle Einzelnheiten der formellen und ideellen Behandlung dieser Gallier in Er-
scheinungen der vorangehenden Zeit ihre Vorbilder haben, von denen der Künstler
sie entlehnte, oder doch entlehnen konnte. Die an das Naturalistische streifende
Behandlung der Haut, der eigenthümliche Charakter des Haares erinnern uns
an die Bestrebungen des Lysistratos und Lysipp. Für den scharf ausgeprägten
Charakter des Kopfes können manche Portraits aus Alexanders Zeit als Vor-
stufe gelten. Einen sterbenden Verwundeten hatte schon Kresilas gebildet, eine
458 sterbende lokaste Silanion. Für das Zusammenordnen einzelner Momente zu
einem grösseren Ganzen lagen zahlreiche Reliefs als Vorbilder vor. In Hinsicht
auf das Einzelne vermögen wir also ein neues Bildungsprincip nicht nach-
zuweisen. Allein eben so wenig ist diese Schule die Fortsetzung einer einzelnen
unter den vorangehenden; vielmehr könnte man sagen, sie sei die Fortsetzung
aller früheren. Ihr Princip, sofern hier dieser Name überhaupt angewendet
werden darf, ist der Eklekticismus, die kritische Auswahl des jedesmal Passendsten
aus den verschiedensten Richtungen und die Anwendung desselben auf neue
Aufgaben. Diese der pergamenischen Schule dargebotene neue Aufgabe aber
ist es, welche derselben ihren ganz besonderen Charakter aufdrückt und sie
als einen neuen Ansatzpunkt für weitere Entwickelungen erscheinen lässt.
Griechische Schönheil noch vollendeter darzustellen, als es früher geschehen,
war eine Unmöglichkeit. Die Gallierschlachten aber boten Gelegenheit, die
Bildungsgesetze der griechischen Kunst auf fremde Völker einer weniger voll-
kommenen Race anzuwenden, dieses Unvollkommnere durch die Vollendung
des Bildungsgesetzes zu adeln und so der künstlerischen Thätigkeit einen er-
weiterten Wirkungskreis zu verschaffen. Diese Erweiterung ist aber keineswegs
eine bloss äusserliche; sondern die neue Aufgabe musste ihrer inneren Natur
nach, wie keine andere, von der Ideal- zur Charakterbildung führen. Denn wo
eine absolute Schönheit nicht mehr zu erreichen war, da blieb die historische
Wahrheit, die Schärfe und Klarheit der Charakteristik das höchste Ziel, welches
überhaupt zu erstreben möglich war. Auf diesem Wege nun bildet die perga-
menische Schule einen wichtigen Fortschritt in der inneren Entwickelungs-
geschichte der Kunst, und gewinnt namentlich für die nachfolgenden Zeiten
eine hohe Bedeutung. Zwar fehlen uns die Nachrichten, um ihren Einfluss so-
fort und in ununterbrochener Folge nachzuweisen. Wäre es aber hier am Orte,
die Kennzeichen derjenigen Kunstrichtung näher zu erörtern, welche wir als
die eigentlich römische der Kaiserzeit anzuerkennen pflegen, so würde es sich
zeigen, dass sie sich an keine enger, als an die pergamenische Kunst an-
 
Annotationen