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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0323

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V. Die Kunst der Diadochenperiode bis zur Zerstörung Korinths.

319

Natur, als dass irgend eine Folgerung darauf gebaut werden dürfte. Nach einer 456
Richtung hin vermag jedoch auch, was uns nocli übrig geblieben ist. Aufschluss
2U- geben. Wenn nemlich in den grösseren Compositionen älterer Zeit sich
alle Figuren so zu gruppiren pflegen, dass sie sämmtlich an einer und der-
selben Handlung mehr oder weniger betheiligt erscheinen, wie z. B. bei dem
Kampfe um einen Todten, dem Kampfe gegen den kalydonischen Eber, so
scheint dagegen der Composition der Gallier ein durchaus verschiedenes Frincip
ZU Grunde gelegen zu haben. Das Thema der Niederlage war ein einheit-
liches ; und zu einer Einheit mochte auch hinsichtlich der künstlerischen Grup-
pirung, der Hauptlinien der Composition, das Ganze zusammengefasst erscheinen.
Aber innerhalb dieser Einheit wird das Thema zu einer Mehrheit einzelner Mo-
mente aufgelösst gewesen sein. Dem sterbenden, dem sich und sein Weib
tödtenden Gallier lässt sich, einem jeden für sich, eine gewisse Selbständig-
keit nicht absprechen. Sie können allenfalls als gesonderte Werke für sich be-
stehen. Ebenso mochten aber auch andere Figuren und Gruppen jede ihre
besondere, abgeschlossene Aufgabe zu lösen bestimmt gewesen sein: kämpfende,
sich vertheidigende, unterliegende, verwundete, welche, wie Pausanias sagt, das
feindliche Geschoss, welches sie getroffen, gegen den Feind zurückschleuderten u. a.
ßass nun der Künstler gerade diese Art der Auffassung wählte, wird, wie ich
glaube, keinen anderen Grund haben, als den, dass sie seiner reflectirenden
Geistesrichlung am entsprechendsten war. Durch eine einzelne bestimmte Hand-
lung hätte er allerdings das Ganze zu einer festeren Einheit zusammenschliessen
können. Aber wie er in der Behandlung der Körper den physischen Charakter
der Gallier zur Anschauung zu bringen versucht hatte, so wollte er jetzt auch
durch ihr Handeln ihr geistiges Wesen mit charakteristischer Schärfe zeichnen.
Das allgemeine Thema der Niederlage erlaubte es, gerade diesen Zweck in
ausführlicher Weise durch eine Reihe von einzelnen besonders bezeichnenden
Scenen zu verfolgen, welche sich trotz ihrer relativen Unabhängigkeit von ein-
ander der allgemeinen Einheit wieder unterordneten. Zugleich aber gelang es
dadurch dem Künstler, die Niederlage selbst in ihren besonderen Umständen
darzustellen, und seinem Werke ausser dem künstlerischen Werthe auch das
Verdienst einer historischen Wahrheit zu verleihen, wie sie bisher noch nirgends 457
erreicht worden war.

Wir sind dem Künstler von.der Einzelnheit in der Behandlung der Form
bis zum allgemeinsten Gedanken der Composition gefolgt, um ein klares Ver-
ständniss darüber zu erlangen, was er in seinem Werke geleistet hat. Jetzt
dürfen wir nun die weitere Frage aufwerfen, wodurch er zu dieser Leistung be-
fähigt war, welches die Vorbedingungen waren, durch deren Erfüllung er seine
Aufgabe in so vollendeter Weise löste; oder mit anderen Worten, welche Stelle
vir dem Künstler oder seiner Schule in der historischen Entwickelung der
griechischen Kunst anzuweisen halten. Denn dass diese Schule, wenn sie auch
nicht direct von einer der früheren abzuleiten ist, doch in einem bestimmten
Zusammenhange mit der gesammten früheren Entwickelung stehen muss, ist
eine Voraussetzung, die des Beweises nicht bedürfen wird. Die griechische
Kunst aber hatte bereits einen weiten Weg durchlaufen. Auf Phidias, Myron,
Polyklet waren Skopas, Praxiteles, Lysipp gefolgt. Die zweiten standen auf
 
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