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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0365

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V. Die Kunst iler Diadochenperiöde bis zur Zerstörung Korinthe.

361

Künstliche tritt überall an die Stelle des Einfachen und Natürlichen; und wenn
man in einzelnen Dichtungsarten, wie namentlich im Idyll, recht absichtlich zu
dem unschuldigen, unverdorbenen Naturleben zurückzukehren strebte, so zeigt 517
sich gerade darin, wie wenig man sich im Stande fühlte, die ursprüngliche
Natur in allen andern Lebensverhältnissen wiederzufinden. In gleicher Weise
tritt auf dem Gebiete der bildenden Kunst zwar ebenfalls das Bedürfniss her-
vor, in kleineren Werken, wie den Darstellungen aus dem Kinderleben, die
anspruchsloseste Naivetät walten zu lassen. Aber auch hier war dieses Be-
dürfniss offenbar erst durch den Gegensatz hervorgerufen ■ man bedurfte ge-
wissermassen der Erholung, nachdem man in den grösseren, anspruchsvolleren
Schöpfungen die ganze Fülle künstlerischen Wissens und Könnens aufzuwenden
genöthigt gewesen war. Um den Umfang desselben in allen Einzelnheiten zu
ergründen, würde freilich die genaue Kenntniss einer grösseren Zahl von Werken
erforderlich sein, als uns erhalten ist. Doch haben uns die Gallier und der
Laokoon Stoff zu Bemerkungen in hinlänglichem Maasse gewährt, um ein Ur-
theil im Allgemeinen zu begründen. In Hinsicht auf formelle Behandlung
konnten uns die ersten namentlich darüber belehren, in welcher Weise man
damals, um aus schwankenden und unsicheren Beobachtungen der Einzeln-
heiten in der Natur zur schärfsten Charakteristik der Barbarenbildung sich em-
porzuarbeiten, auf die Bahn eines kritischen Eklekticismus geleitet wurde. Am
Laokoon dagegen erkannten wir, wie man die Kenntnisse, welche zur Dar-
stellung der höchsten Anspannung aller Kräfte erforderlich waren, durch ein
gründliches anatomisches Studium des menschlichen Körpers sich anzueignen
gewusst hatte. Wenn wir ferner behaupteten, dass bei der Compositum dieser
und der verwandten Gruppe des Stieres die Mannigfaltigkeit vieler einzelnen
Motive durch eine berechnete Unterordnung derselben unter gewisse, nicht so-
wohl durch die Handlung, als durch den Raum bedingte Grundverhältnisse zu
einer klaren und übersichtlichen Einheit verknüpft worden seien, so vermutheten
wir bei den Galliern, dass der Künstler eben so absichtlich die geschlossene
Einheit der Handlung gerade aufgegeben habe, um die aus dem inneren Wesen
der dargestellten Kämpfer entspringenden Motive in mehr gesonderten Figuren
oder Gruppen klar und erschöpfend durchbilden zu können. So schön nun aber
z. B. das psychologische Bild des Sterbenden gezeichnet ist, so werden wir
doch die freie poetische Schöpfungskraft nicht zu hoch anschlagen dürfen: man 518
möchte sagen, dass in der ganzen Auffassung, wenn auch durch die Natur der
Aufgabe gerechtfertigt und darum weniger anstössig, ein gewisser didaktischer
Grandcharakter sich erkennen lasse. Und selbst in den grossartigsten Werken
der rhodischen Schule ist es vielleicht weniger das Walten eines ursprünglich
poetischen Genius, als die Feinheit in der Combination spannender Einzelnheiten
und deren Zusammenfassen in einen einzigen effectvollen Moment, was uns mit
Staunen und Bewunderung erfüllt.

Je grösser aber überall die Schwierigkeiten waren, welche der Künstler
zu überwinden hatte, je grössere Sorgfalt er anwendete, den mannigfaltigsten
Forderungen gerecht zu werden, um so mehr musste er in Versuchung gerathen,
zuweilen noch mehr, als es durch die Sache geboten war, sich selbst, sein
Wissen und sein Können zu zeigen. Gerade daraus aber entspringt zum grossen
 
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