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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0422

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418

Die Bildhauer.

vollen Verhältniss zwischen Mutter und Sohn, oder älterer Schwester und Bruder
im Allgemeinen verflacht hat, einem Verhaltnisse, dem vom rein menschlichen
Standpunkte zur Schönheit sicherlich nichts gebricht, das aber dennoch nur zu

5t»9 einem Genrebilde, nicht zu einer historischen Darstellung ausreicht. Nichts desto
weniger nimmt diese Gruppe unter den in Rom befindlichen Kunstwerken eine
bedeutende Stelle ein, da sie sich den vielen, wenn auch noch so vorzüglichen
römischen Copien griechischer Vorbilder gegenüber selbst dem ungeübteren
Blicke leicht als eine Originalschöpfung offenbart. Freilich fehlt die Frische,
Lebendigkeit und Weichheit der Modellirung, welche in den Werken der hosten
Zeit uns das vorhergegangene Studium gänzlich vergessen und das Kunstwerk
wie unmittelbar aus der Natur in Stein verkörpert erscheinen lässt. Eben so
wenig finden wir ein Prunken mit technischer Meisterschaft und gelehrtem
Wissen, wie wir es in den Werken der kleinasiatischen Kunst bemerkt haben.
Wir erkennen vielmehr, wie der Künstler namentlich in den Gewändern jede
einzelne Partie sich für seine besonderen Zwecke zurechtgelegt hat; ja an einigen
Stellen glaubt man noch Spuren einer Zubereitung des Modelles wahrzunehmen,
welches der Künstler zuerst sorgfältig in Thon nachgeahmt haben muss, um
es erst dann in den Marmor zu übertragen. Die Ausführung selber ist frei von
jeder Nachlässigkeit, entbehrt aber freilich auch der Leichtigkeit, welche sich
da zeigt, wo der Künstler seines Stoffes gänzlich Herr ist und vielleicht ab-
sichtlich manches Nebenwerk der Hauptsache, dem Eindrucke des Ganzen, opfert.
Hier ist vielmehr der Grad der Vollendung überall ein gleichmässiger, und zwar
von der Art, wie ihn der Künstler bei einem gewissenhaften Studium und bei
einer verständigen Benutzung des Modells auch ohne eine besondere Bravour
zu erreichen vermag.

So können uns die beiden Werke des Stephanos und Menelaos wenigstens
annäherungsweise einen Begriff von dem geben, was Pasiteles, der Meister dieser
Schule, überhaupt erstrebte. Während die gleichzeitigen Attiker immer mehr
das Heil der Kunst nur noch in einem möglichst engen Anschliessen an die
älteren Muster oder geradezu in deren Nachahmung sahen, die Kleinasiaten
dagegen ihr künstlerisches Wissen und ihre Meisterschaft in der Lösung schwie-
riger Probleme zu zeigen zwar auch jetzt noch, aber doch schon mit bei weitem
geringerem Erfolge, als in der früheren Periode, versuchten, scheint Pasiteles
auf nichts Geringeres ausgegangen zu sein, als auf eine selbständige Regene-

600 ration der Kunst auf der Grundlage sorgfältiger Studien der Natur und dessen,
was früher geleistet war. Er erkannte die Nothwendigkeit, zur Natur als dem
Urquell aller Kunst immer von Neuem zurückzukehren, nicht um sie in dem
Kunstwerke sklavisch nachzuahmen oder diese Nachahmung zum Hauptzweck
zu erheben, sondern um an ihr zu lernen. Um aber bei dem steten Wechsel
ihrer Erscheinungen eine Richtschnur zu gewinnen, nach welcher die Natur
überhaupt für die Zwecke der Kunst zu benützen sei, wendete er sich mit Eifer
dem Studium der älteren Kunst zu. An ihr konnte sich der Sinn bilden und
läutern und zu einem ähnlichen Adel der Auffassung emporarbeiten, wie er sich
überall in ihren Werken ausspricht. Es ist begreiflich, wenn auf diesem Wege
nicht Werke von einer hohen Genialität entstanden; aber es ward wenigstens
der Ausartung und der gänzlichen Verflachung eine wirksame Schutzwehr ent-
 
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