I. Studien zur Geschichte dei' Artemis.
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des Bruders erblafst ist! Unter den vielen Heiligthümern
Arkadiens ist nur eines, in dem sie als Letoide verehrt wurde.
Die geschwisterliche Verbindung ist etwas verhältnifsmäfsig
Spätes, Zufälliges und Unwesentliches. Artemis wurde, wo
Apoilon eine zeusartige Stellung hatte, auch als die Gattin
Apollon^s angesehen (Eustath. zur Ilias 20, 70).
Die Entwickelung der Artemis zu einer selbständigen Gottheit
kann in zwiefacherlVeise gedacht werden. Man kann annehmen,
es sei ein kleiner Kern aHmählich angewachsen, d. h. durch
äufsere Zuthat, durch Uebertragung immer neuer Functionen
und Würden, wie man etwa einem bewährten Geschäftsführer
oder Beamten bei wachsendem Vertrauen immer mehr verant-
wortliche Dienstleistungen überträgt.
So denkt sich auch IVelcker den Hergang, wenn er von
Artemis sagt (II 400): „nachdem die Herrschaft des Mond-
iichts auf sie tibertragen, ging eine neue AVürde auf die keusche
Jägerin über, die Geburtshülfe", und das Bild der Jägerin
hat sich so ungebührlich in den Vordergrund gedrängt, dafs
es im C. Inscr. Gr. II 2172 von den lesbischen Quellen heifst,
sie seien Artemis heilig ,,ob venationem" !
Dafs diese Auffassung nicht genügen könne, braucht wohl
nicht ausgeftihrt zu werden. Das Wesen der Göttin läfst sich
nicht aus einzelnen Attributen und Motiven stückweise zusammen-
setzen. Es mufs ein anderer Kern vorhanden sein als die Vor-
stellung einer Jägerin und das Bild des Mondes. Ich stimme
hier vollständig mit H. D. Mtiller tiberein, wenn er sagt: „Die
physische Anschauung ist nicht der Grundstoff, aus dem die
religiösen Vorstellungen sich bilden; die dem Menschen ein-
geborene Gottesidee entnimmt ihre Formen den Phaenomenen
der Natur" (Myth. II 273). Der Thau, von dem im Stiden
die Flora lebt, ist der Sohn der Nacht, und je klarer der Mond
am Himmel steht, um so reichlicher trieft der Thau; darum
war die Mondsichel das treffendste Symbol der grofsen Göttin,
die den Segen der Natur spendet, die PHegerin des Lebens in
PHanzen-, Thier- und Menschenwelt, tiberall an ßschreichen
Seen, auf Bergweiden und in feuchten Gründen, an Flüssen,
Bächen und Quellen zu Hause, die Behüterin von Mutter und
Kind in den gefährlichsten Stunden, die des Lebens Anfang in
Händen hat und mit sanftem Geschofs ein mildes Ende bereitet.
Sie folgt dem Menschen vom Hirtenzelte in die Stadt, und mit
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des Bruders erblafst ist! Unter den vielen Heiligthümern
Arkadiens ist nur eines, in dem sie als Letoide verehrt wurde.
Die geschwisterliche Verbindung ist etwas verhältnifsmäfsig
Spätes, Zufälliges und Unwesentliches. Artemis wurde, wo
Apoilon eine zeusartige Stellung hatte, auch als die Gattin
Apollon^s angesehen (Eustath. zur Ilias 20, 70).
Die Entwickelung der Artemis zu einer selbständigen Gottheit
kann in zwiefacherlVeise gedacht werden. Man kann annehmen,
es sei ein kleiner Kern aHmählich angewachsen, d. h. durch
äufsere Zuthat, durch Uebertragung immer neuer Functionen
und Würden, wie man etwa einem bewährten Geschäftsführer
oder Beamten bei wachsendem Vertrauen immer mehr verant-
wortliche Dienstleistungen überträgt.
So denkt sich auch IVelcker den Hergang, wenn er von
Artemis sagt (II 400): „nachdem die Herrschaft des Mond-
iichts auf sie tibertragen, ging eine neue AVürde auf die keusche
Jägerin über, die Geburtshülfe", und das Bild der Jägerin
hat sich so ungebührlich in den Vordergrund gedrängt, dafs
es im C. Inscr. Gr. II 2172 von den lesbischen Quellen heifst,
sie seien Artemis heilig ,,ob venationem" !
Dafs diese Auffassung nicht genügen könne, braucht wohl
nicht ausgeftihrt zu werden. Das Wesen der Göttin läfst sich
nicht aus einzelnen Attributen und Motiven stückweise zusammen-
setzen. Es mufs ein anderer Kern vorhanden sein als die Vor-
stellung einer Jägerin und das Bild des Mondes. Ich stimme
hier vollständig mit H. D. Mtiller tiberein, wenn er sagt: „Die
physische Anschauung ist nicht der Grundstoff, aus dem die
religiösen Vorstellungen sich bilden; die dem Menschen ein-
geborene Gottesidee entnimmt ihre Formen den Phaenomenen
der Natur" (Myth. II 273). Der Thau, von dem im Stiden
die Flora lebt, ist der Sohn der Nacht, und je klarer der Mond
am Himmel steht, um so reichlicher trieft der Thau; darum
war die Mondsichel das treffendste Symbol der grofsen Göttin,
die den Segen der Natur spendet, die PHegerin des Lebens in
PHanzen-, Thier- und Menschenwelt, tiberall an ßschreichen
Seen, auf Bergweiden und in feuchten Gründen, an Flüssen,
Bächen und Quellen zu Hause, die Behüterin von Mutter und
Kind in den gefährlichsten Stunden, die des Lebens Anfang in
Händen hat und mit sanftem Geschofs ein mildes Ende bereitet.
Sie folgt dem Menschen vom Hirtenzelte in die Stadt, und mit