I. Studien zur Geschichte der Artemis.
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schauung der Naturkraft iu einem weiblichen Urwesen, und
noch in Ephesos war die überschwängliche Idee einer gebärenden
und nährenden Muttergöttin so vorherrschend. dafs das männ-
liche Princip der Schöpfung gänzlicii verschwand. Dagegen ist
auf dem Boden des hellenischen Volksthums der pelasgische
Zeus in vollen Ehren geblieben. Eine Person trat neben die
andere, und nun begann die Poesie ihr geistreiches Spiel, um
die Ideen männlich und weiblich gedachter Gottesmächte, wie
sie sich im religiösen Bewufstsein der verschiedenen Stämme
entwickelt hatten, zu gestalten und wie eine Menschenfamilie
um einen Hausheerd zu gruppiren. Das ist der Process, dessen
Abschlufs Homer und Hesiod bezeichnen. Diese Zusammen-
ordnung war ohne Beschränkung der einzureihenden Gestalten
unmöglich, wie wir es auch im Musenchor sehen, wo e i n e Idee
von umfassender Bedeutung so getheilt wird, dafs jeder Trägerin
derselben ein besonderer Wirkungskreis zugewiesen worden ist.
Hier wirken also Poesie und Religion in entgegengesetzter
Richtung. Denn die eine verlangt plastische Gestalten und
menschengleiche Individualitäten; das religiöse Bedürfnifs aber
will göttliche Wesen, bei denen man sich nicht erst zu besinnen
braucht, wie weit ihre Machtsphäre reiche. Mit Ausnahme von
Hestia, dem symbolischen Bande der Hausgenossen, ist also
jede oiympische Gottheit ursprünglich ein Wesen von unbe-
grenzter Macht, wie es der eingeborenen Gottesidee entspricht,
ein ganzer Gott, und die Götterlehre wird wesentlich zu einer
Morphologie, deren Aufgabe es ist, jede olympische Gestalt
ihrem Ursprunge und ihren Wandlungen nach geschichtlich zu
begreifen, wie ich es mit Artemis versucht habe.
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schauung der Naturkraft iu einem weiblichen Urwesen, und
noch in Ephesos war die überschwängliche Idee einer gebärenden
und nährenden Muttergöttin so vorherrschend. dafs das männ-
liche Princip der Schöpfung gänzlicii verschwand. Dagegen ist
auf dem Boden des hellenischen Volksthums der pelasgische
Zeus in vollen Ehren geblieben. Eine Person trat neben die
andere, und nun begann die Poesie ihr geistreiches Spiel, um
die Ideen männlich und weiblich gedachter Gottesmächte, wie
sie sich im religiösen Bewufstsein der verschiedenen Stämme
entwickelt hatten, zu gestalten und wie eine Menschenfamilie
um einen Hausheerd zu gruppiren. Das ist der Process, dessen
Abschlufs Homer und Hesiod bezeichnen. Diese Zusammen-
ordnung war ohne Beschränkung der einzureihenden Gestalten
unmöglich, wie wir es auch im Musenchor sehen, wo e i n e Idee
von umfassender Bedeutung so getheilt wird, dafs jeder Trägerin
derselben ein besonderer Wirkungskreis zugewiesen worden ist.
Hier wirken also Poesie und Religion in entgegengesetzter
Richtung. Denn die eine verlangt plastische Gestalten und
menschengleiche Individualitäten; das religiöse Bedürfnifs aber
will göttliche Wesen, bei denen man sich nicht erst zu besinnen
braucht, wie weit ihre Machtsphäre reiche. Mit Ausnahme von
Hestia, dem symbolischen Bande der Hausgenossen, ist also
jede oiympische Gottheit ursprünglich ein Wesen von unbe-
grenzter Macht, wie es der eingeborenen Gottesidee entspricht,
ein ganzer Gott, und die Götterlehre wird wesentlich zu einer
Morphologie, deren Aufgabe es ist, jede olympische Gestalt
ihrem Ursprunge und ihren Wandlungen nach geschichtlich zu
begreifen, wie ich es mit Artemis versucht habe.