VI. Die Darstellungen des Kairos.
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die Wage. Die Wage ist eine symbolische Zuthat, welche, in
der vorgestreckten Hand gehalten, eine ruhig stehende Figur
voraussetzt, wie wir sie auf der Cremme sehen, aber mit einer
lebhaft bewegten. ja hastig rennenden Figur in vollem Wider-
spruch steht. Wenn wir uns den Kairos als freie Figur denken,
so ist, wie Jeder fühlen wird, eine solche vorgestreckte Wage
vollends unerträglich.
Hat der Kairos, wie wir gesehen haben, im griechischen
Stadion scinen Ursprung, so ist nichts wahrscheinlicher als dafs
der peloponnesische Erzbildner auch von hier sein Hauptmotiv
entlehnt hat, und wenn wir auf den besprochenen Gemmen-
bildern sowie in dem Fragment von Athen und in der Turiner
Tafel einen rennenden Epheben sehen, dessen Gestalt auch noch
in späten Wiederholungen den Oharakter hellenischer Gymnastik
deutlich erkennen läfst, so glaube ich annehmen zu dürfen, dafs
diese behende, auf den Fufsspitzen über den Boden hineilende
Figur, in welcher die Yerbindung von Vorsicht und Schneliig-
keit auf das Feinste ausgedrückt war, die eigentliche Schöpfung
des Lysippos gewesen sei, der sie vielleicht zuerst als Altar-
relief in Olympia componirt hat. Es war eine Figur der
Palästra.
Der folgenden Zeit genügte die einfache Darstellung nicht.
Die Palästra und Gymnastik hörten auf, der Mittelpunkt des
Yolkslebens zu sein; die abstrakten Ideen von Glück und
Schicksal drängten sicb unaufhaltsam vor und so wurde dem
Kairos-Begriffe nacb dieser Seite eine neue Entwickelung ge-
geben.
Wie der Hermes Enagonios (S. 195) mit einem Fufse auf
die Kugel tritt, so liefs man nun den Kairos mit beiden Fufs-
spitzen auf einer Kugel sich erheben wie die herculanische
Fortuna (Müller-Wieseler II 924), um das Unstäte und jeden
Augenblick des Umschwungs Gewärtige des glücklichen Erfolges
zur Anscliauung zu bringen. Dies war also im Wesentiichen
eine ruhige Figur, wie sie der Beschreibung des Kallistratos
zu Grunde liegt (gm^x^v rtrog uycf/^ag), wenn auch viel-
leicht im Haar und in der Ohlamys etwas von der Beweglich-
keit des Körpers angedeutet war. Als genaueres Kennzeichen
wurde dieser Figur dann eine Wage in die Hand gegeben.
In einem spätern Stadium (so denke ich mir die weitere
Entwickelung) wurden beide Motive, das bewegte und das un-
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die Wage. Die Wage ist eine symbolische Zuthat, welche, in
der vorgestreckten Hand gehalten, eine ruhig stehende Figur
voraussetzt, wie wir sie auf der Cremme sehen, aber mit einer
lebhaft bewegten. ja hastig rennenden Figur in vollem Wider-
spruch steht. Wenn wir uns den Kairos als freie Figur denken,
so ist, wie Jeder fühlen wird, eine solche vorgestreckte Wage
vollends unerträglich.
Hat der Kairos, wie wir gesehen haben, im griechischen
Stadion scinen Ursprung, so ist nichts wahrscheinlicher als dafs
der peloponnesische Erzbildner auch von hier sein Hauptmotiv
entlehnt hat, und wenn wir auf den besprochenen Gemmen-
bildern sowie in dem Fragment von Athen und in der Turiner
Tafel einen rennenden Epheben sehen, dessen Gestalt auch noch
in späten Wiederholungen den Oharakter hellenischer Gymnastik
deutlich erkennen läfst, so glaube ich annehmen zu dürfen, dafs
diese behende, auf den Fufsspitzen über den Boden hineilende
Figur, in welcher die Yerbindung von Vorsicht und Schneliig-
keit auf das Feinste ausgedrückt war, die eigentliche Schöpfung
des Lysippos gewesen sei, der sie vielleicht zuerst als Altar-
relief in Olympia componirt hat. Es war eine Figur der
Palästra.
Der folgenden Zeit genügte die einfache Darstellung nicht.
Die Palästra und Gymnastik hörten auf, der Mittelpunkt des
Yolkslebens zu sein; die abstrakten Ideen von Glück und
Schicksal drängten sicb unaufhaltsam vor und so wurde dem
Kairos-Begriffe nacb dieser Seite eine neue Entwickelung ge-
geben.
Wie der Hermes Enagonios (S. 195) mit einem Fufse auf
die Kugel tritt, so liefs man nun den Kairos mit beiden Fufs-
spitzen auf einer Kugel sich erheben wie die herculanische
Fortuna (Müller-Wieseler II 924), um das Unstäte und jeden
Augenblick des Umschwungs Gewärtige des glücklichen Erfolges
zur Anscliauung zu bringen. Dies war also im Wesentiichen
eine ruhige Figur, wie sie der Beschreibung des Kallistratos
zu Grunde liegt (gm^x^v rtrog uycf/^ag), wenn auch viel-
leicht im Haar und in der Ohlamys etwas von der Beweglich-
keit des Körpers angedeutet war. Als genaueres Kennzeichen
wurde dieser Figur dann eine Wage in die Hand gegeben.
In einem spätern Stadium (so denke ich mir die weitere
Entwickelung) wurden beide Motive, das bewegte und das un-