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XIII. Die Kanephore von Pästum.
bezeugt, die man doch gewifs niclit als eine archaisirende an-
sehen wird, AHes echt und ursprünglich. Es ist ein Stil,
welcher nichts Absichtliches oder Gezwungenes zeigt; es ist
der wahre Ausdruck des religiösen Gefühls, aus welchem die
Widmung hervorgegangen ist. Das Werk zeigt eine in ihrer
Gebundenheit vollendete Kunst, ohne eine Spur von Rohheit
oder Ungeschick, schlicht und einfach, von ethischer Wärme
durchdrungen, wohl durchdacht in dem rhythmischen Gegen-
satze der beiden Seiten, voll Harmonie in der Gesammt-
erscheinung und im Einzelnen auf das Feinste durchgeführt;
es ist ein unschätzbares Zeugnifs dafür, wie man um 500 v.
Chr. im griechischen Unteritalien bildete. Damals bltihte dort
die Schule des Pythagoras von Rhegion, den wir aus einer
olympischen Inschrift als einen von Samos ZugewanJerten
kennen.') Wenn wir nun in unserm Bildwerke eines der ältesten
Denkmäler der ionischen Säule vor Augen haben, wenn wir
ferner in der ganzen Haltung und Bekleidung einen Oharakter
erkennen, welcher dem ionisch-attischen nahe verwandt ist, so
wird vielleicht die Vermuthung nicht zu kühn erscheinen, dafs,
wie wir im vorigen Jahre die erste Inschrift des Meisters ge-
funden haben, der Italien und Ionien in fruchtbare Verbindung
gesetzt hat, so dies eines der ersten Denkmäler sei, welches
der Schule des in Grofsgriechenland tonangebenden Bildhauers
angehört.
Stammt die Statuette wirklich aus Pästum, wo Herr Semper
sie erworben hat, so bezeugt sie, dafs auch hier neben Poseidon
Athene herrschte. Sicher ist, dafs der pästanische Poseidon
so gut wie der attische eine Salzquelle hatte; denn der AbHufs
der Tempelquelle heifst noch heute il salso.
Archäol. Zeitung XXXVI S. 83.
XIII. Die Kanephore von Pästum.
bezeugt, die man doch gewifs niclit als eine archaisirende an-
sehen wird, AHes echt und ursprünglich. Es ist ein Stil,
welcher nichts Absichtliches oder Gezwungenes zeigt; es ist
der wahre Ausdruck des religiösen Gefühls, aus welchem die
Widmung hervorgegangen ist. Das Werk zeigt eine in ihrer
Gebundenheit vollendete Kunst, ohne eine Spur von Rohheit
oder Ungeschick, schlicht und einfach, von ethischer Wärme
durchdrungen, wohl durchdacht in dem rhythmischen Gegen-
satze der beiden Seiten, voll Harmonie in der Gesammt-
erscheinung und im Einzelnen auf das Feinste durchgeführt;
es ist ein unschätzbares Zeugnifs dafür, wie man um 500 v.
Chr. im griechischen Unteritalien bildete. Damals bltihte dort
die Schule des Pythagoras von Rhegion, den wir aus einer
olympischen Inschrift als einen von Samos ZugewanJerten
kennen.') Wenn wir nun in unserm Bildwerke eines der ältesten
Denkmäler der ionischen Säule vor Augen haben, wenn wir
ferner in der ganzen Haltung und Bekleidung einen Oharakter
erkennen, welcher dem ionisch-attischen nahe verwandt ist, so
wird vielleicht die Vermuthung nicht zu kühn erscheinen, dafs,
wie wir im vorigen Jahre die erste Inschrift des Meisters ge-
funden haben, der Italien und Ionien in fruchtbare Verbindung
gesetzt hat, so dies eines der ersten Denkmäler sei, welches
der Schule des in Grofsgriechenland tonangebenden Bildhauers
angehört.
Stammt die Statuette wirklich aus Pästum, wo Herr Semper
sie erworben hat, so bezeugt sie, dafs auch hier neben Poseidon
Athene herrschte. Sicher ist, dafs der pästanische Poseidon
so gut wie der attische eine Salzquelle hatte; denn der AbHufs
der Tempelquelle heifst noch heute il salso.
Archäol. Zeitung XXXVI S. 83.