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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Meurer, Bernd: Gestaltung Mythos Vernunft
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0029
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Bernd Meurer

Gestaltung Mythos Vernunft

Lassen Sie mich zwei Sätze sagen zu dem,
was gestern am 3. Oktober politisch besiegelt
und national gefeiert wurde. Vor eineinhalb
Jahrhunderten hat Arnold Ruge, der hier in
Halle eine Zeitlang studiert und gelehrt hat,
von Paris aus seinen berühmten Brief mit der
vieldeutigen Anrede „An einen Leipziger Pa-
trioten“ geschrieben. Im Zentrum dieser Schrift
steht der Gedanke, daß, wie er schrieb, „Frei-
heit und Vaterland“ Kategorien sind, die nicht
zusammengehen, die sich gegenseitig aus-
schließen.

Ich will hoffen, daß die Überwindung der in-
nerdeutschen Grenze sich als Teil eines Pro-
zesses allgemeiner globaler Entgrenzung, po-
litischer Denationalisierung und multikulturel-
ler Identitätsentwicklung erweist und nicht, wie
mancherorts und nicht nur hier, sondern in vie-
len Gebieten Europas und der Welt spürbar,
als Grundlage eines neuen nationalistischen
Denkens und Handelns, bei dem der Mythos
vom Vaterland, von Volk und Nation die Ver-
nunft kritischer Reflexion und Selbstreflexion
gesellschaftlich überlagert.

Soviel zur aktuellen Tagespolitik.

Gestaltung - Mythos - Vernunft. In dem, was
heute als „neues Design“ bezeichnet wird, be-
zieht sich das Neue, mit dem man sich vom Al-
ten abzusetzen versucht, meist bloß auf das
Erscheinungsbild der Erzeugnisse und nicht
auf deren Struktur. Ein Stuhl z. B. fungiert in
dieser Art von Design in erster Linie als ästheti-
sches Objekt und erst in zweiter als Sitzgele-
genheit.

Aber nicht nur die Produkte werden ästhetisch
überhöht, sondern auch die Formen ihres Ver-
kaufs. Das auf’s Erscheinungsbild fixierte De-
sign präsentiert sich nicht mehr irgendwo,
sondern, wie bisvor kurzem nur die Kunst, in
Galerien.

Angesichts der Probleme, die sich uns heute
bei der Frage nach der Gestaltung unserer
physikalischen und sozialen Umwelt stellen,
scheinen sich die Vertreter solcher Gestal-
tungsauffassungen ins Reich der Ästhetik -

oder der ästhetischen Interpretation - davon-
stehlen zu wollen, pikanterweise unter dem
Etikett ,Avantgarde Design'.

Darin setzen sich jene Traditionen und Mythen
der Gestaltung fort, welche die gestalterische
Avantgarde schon der 20er Jahre zu überwin-
den trachtete.

In der etablierten Architektur- und Designpra-
xis war die gestalterische Auseinandersetzung
seit jeher auf Fragen des Erscheinungsbildes,
d. h. auf ästhetische oder, wenn Sie so wollen,
auf Stilfragen fixiert. Auch vieles von dem, was
unter dem Begriff der gestalterischen Moderne
zusammengefaßt wird, war von diesem Den-
ken und Handeln geprägt.

Mies van der Rohe etwa, um nur ein Beispiel
zu nennen, hat, im Gegensatz etwa zu Hannes
Meyer, Architektur weniger aus der Aufgabe
heraus entwickelt, als nach übergeordneten
ästhetischen Prinzipien komponiert.

Andererseits waren die vielfältigen Versuche,
sich von dieser bildfixierten, aus der Beaux
Arts Vergangenheit stammenden Methode zu
befreien, stets davon bedroht, wiederum
selbst als bloßes Formexperiment angesehen
zu werden. Am Dessauer Bauhaus zum Bei-
spiel, das mit seiner teils künstlerischen, teils
kunsthandwerklichen und teils im Ansatz auch
wissenschaftlichen Orientierung in extremer
Weise von dieser Problematik durchzogen
war, versuchte Ernst Kallai 1928 in einem Arti-
kel der Bauhauszeitschrift gegen die Tendenz
künstlerisch-ästhetischer Vereinnahmung an-
zugehen, die, wie er schrieb, „hinter dem
schlagwort ,bauhausstil‘ steht.“ Er polemisierte
dagegen, „mit“, wie er weiterfuhr, „einer hori-
zontal gefügten gradlinigkeit, mit würfeln,
übereckfenstern und flachdächern“ gestalte-
risch umzugehen, wie mit stilistischen Versatz-
stücken. Wie berechtigt seine Befürchtungen
waren, zeigt sich besonders eindrucksvoll
darin, daß die berühmte, von Henry Russel
Hitchcock und Philip Johnson 1932 für das
New Yorker Museum of Modern Art eingerich-
tete Ausstellung über zeitgemäße Architektur
mit dem Titel ,The International Style‘ über-
schrieben war. Unter gleichem Namen er-
schien damals das zugehörige Buch. Dem Ti-
tel entsprechend wird in Ausstellung und Buch
die gestalterische Moderne auf eine Art For-
menkanon reduziert, was sie gewiß vielfach
auch war-abereben nicht nur. Daß in ihrauch

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