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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Schreiber, Dieter: Gestalterisches und menschliches Maß - eine Kontroverse mit der Vernunft?
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0121
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Dieter Schreiber

Gestalterisches und mensch-
liches Maß -

eine Kontroverse mit der
Vernunft ?

Eine sarkastische Wertung der Lebensum-
stände ist uns von G.B.Shaw überliefert. Er
meinte: „Wir brauchen mehr Verrückte in die-
ser Welt, seht doch nur, wohin uns die Ver-
nünftigen gebracht haben“.

Ich denke, daß diese Sentenz vielleicht gern
von jenen vordergründig interpretiert wird, die
prinzipiell etwas gegen die Anstrengungen der
denkenden Vernunft haben. An diese werde
ich im weiteren nicht appellieren.

Uns geht es mit dem Rahmenthema „Vernunft
im Design“ um jene, die ihre Nachdenklichkeit
nutzen, Anhaltspunkte für ihr gestalterisches
Handeln zu suchen und sich dabei um ver-
nünftige Maßstäbe bemühen.

Wie und für wen sind diese Maßstäbe zu fin-
den, und welchen Sinn macht es, diese in der
Vernunft zu suchen?

Bevor ich mich in die begrifflichen Unklarhei-
ten gestalterischer und menschlicher Maß-
problematik einlasse, einige thesenartige Be-
merkungen zu Sinn und Notwendigkeit dieses
Suchprozesses.

1. Vemunft im Design wirft die Frage nach der
Programmatik gestalterischen Tuns auf, sie
schließt eine bewertende Reflexion von Inter-
essenlagen der am Design in bestimmter
Weise Beteiligten d. s. Designer, Nutzer/Kon-
sument, Unternehmer u. v. a. Politiker ein.

Dies ist durchaus kein allgemein akzeptierter
Ausgangspunkt. Ein Blick in die Geschichte
des Designs, auf das Selbstverständnis man-
chen Gestalters läßt nämlich vermuten, daß oft
nur eine einseitige Interessenlage, geknüpft
an esoterischen und speziell künstlerischem
Eigenverständnis oder mittlerweile verkürzten
eklektizistischen traditionellen Gestaltungs-

strategien, Ausgangspunkt sogenannten ver-
nünftigen Handelns ist.

Letzteres führte in der Konsequenz dazu, den
zu Zeiten vernünftigen gestalterischen Maß-
stab einfach für alle Zeiten fortzuschreiben und
en passent als Berücksichtigung aller beteilig-
ter Interessenlagen auszugeben.

Entsprechend war die Kollision angelegt. Sie
beginnt - wenn auch nur sehr vermittelt - dort
wo man das berechtigte Selbstverständnis der
Urväter designstrategischer Programmatik un-
gebrochen in die aktuelle Produkt- und Um-
weltgestaltung der Alltagskultur mit hinüber-
nahm, ohne die Wert- bzw. Zustandsänderung
des Hauptpartners des Designers, nämlich
des Nutzers, neu und umfassend ins Kalkül zu
ziehen, sofern er nicht schon von vornherein
prinzipiell für inkompetent gehalten wurde.

Mittlerweile ist der Nutzer allerdings mündiger
geworden und der Strukturwandel des sozio-
ökonomischen Prozesses in sogenannten Zi-
vilisationsgesellschaften geht einher mit einem
sich immerstärkervollziehenden Paradigmen-
wechsel über das Verständnis des Menschen
und seines Handelns.

In diesem Kontext erfährt das Design entspre-
chend dem aktuellen Verständnisfortschritt,
den Rückzugsgefechten und dem Behar-
rungsvermögen der Beteiligten Widerspruch,
Anerkennung, Ablehnung, Lob, Kritik.

Das Festhalten an althergebrachten oder
eklektizistischen Konzepten schreibt die Zu-
nahme der Problemfülle (übrigens nicht nur
im Design) zumindest linear fort, macht indu-
strielles Design für die künftige Entwicklung
humaner oder inhumaner Welten mitverant-
wortlich. Allein der Ruf nach Vielfalt, oder
einem „Fest fürs Auge“ kann gestalterische
Schmerzen nicht mindern.

Wir werden nicht umhinkönnen, Orientie-
rungsmaßstäbe für die Begrenzung gestalteri-
schen Handelns zu formulieren.

2. Die Notwendigkeit, nach einer neuen Ver-
nunft auch im Design zu fragen, offenbart sich
einerseits in der Gestaltungsarbeit selbst, an-
dererseits und übergreifend in der Stellung
des Designs als Kulturprodukt im Gesamtöko-
system unserer Welt.

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