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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Funke, Rainer: Zur Kritik des rationalistischen Vernunftsbegriffs
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0089
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Rainer Funke

Zur Kritik des rationalistischen
Vernunftsbegriffs

„Vernunft im Design“ - dieses Thema impli-
ziert: Dort, wo Vernunft im Design herrscht, ist
Design richtig. „Designer, verhaltet Euch ver-
nünftig!“

Wir sind es gewohnt, das Wort „Vernunft“ dann
zu gebrauchen, wenn wir eine Handlung,
Tätigkeit, einen Menschen, Gruppen, die Ge-
sellschaft aus unserer Sicht positiv bewerten,
unsere Zustimmung geben. Und wir meinen,
Vernunft als Kriterium des Handelns ist all-
gemein anerkannt und anzuerkennen - wir in
Deutschland haben da eine lange Tradition.

Es geht um Kriterien oder Prinzipien des Han-
delns im Designprozeß. Was ist das aber, Ver-
nunft?

Die Antwort fällt schwer, obgleich wir alle mei-
nen, wir wüßten, wovon wir sprechen, wenn
wir die Vernunft erwähnen.

„Sei doch vernünftig!“ „Nimm doch Vernunft
an!“ - das heißt: „Sei erwachsen!“ „Tue das,
was allgemein anerkannten Normen ent-
spricht!“ „Unterdrücke Deine Spontanität!“
„Überdenke die möglichen Folgen Deines
Handelns und richte Dein Handeln danach
aus!“ Denn Freiheit hat die Einsicht in die Not-
wendigkeit zur Grundlage, oder: Frei ist der,
der will, was er muß.

Vemünftig ist also der, der so handelt, wie er
handelt, weil er erkannt hat, daß er so handeln
muß. Und dann ist er auch noch frei. Man
sieht, Vernunft hat durchaus eine repressive
Seite.

In der klassischen bürgerlichen Philosophie
von Bacon bis' Feuerbach wird Vernunft als
vorwiegend emanzipatorisches, ursprünglich
kritisches Vermögen des Menschen - begrif-
fen im Sinne der Rationalisierung des Weltbe-
zugs durch Naturwissenschaften und Kritik an
den überkommenen Verhältnissen, Dogmen,
politischen Unfreiheiten.

Einsicht statt Aberglaube, Menschenrechte
und Freiheit der Entscheidung statt Zwang und
Abhängigkeit, Wissen statt Glauben und Wis-
sen als Macht.

Die Vernunft wird schlechthin als das aktivie-
rende Moment für das Handeln der Einzelnen
begriffen und setzt sich an die Stelle fatali-
stischer Teilhabe am göttlichen Geist. Der
Mensch, in Unabhängigkeit von jeder Auto-
rität, bekommt sich völlig autonom in den Griff
- und vereinzelt (fügen wir hinzu).

Diderot: Vernunft ist für den Philosophen, was
die Gnade für den Christen, nämlich Bestim-
mung zum Handeln.

Kant: Vernunft ist oberste Erkenntniskraft, das
Vermögen, das Besondere aus dem Allgemei-
nen abzuleiten, nach Prinzipien und logisch
notwendig.

Das Interesse der Vernunft wird mit den Fra-
gen markiert:

„Was kann ich wissen?“ „Was soll ich tun?“
„Was darf ich hoffen?“

Hegel: Vernunft erzeugt das Allgemeine und
begreift darin das Besondere, der Geist über
dem Verstand ist oberste Autorität für die Ge-
setzgebung und Aneignungsprinzip.

Marx: Vernunft wird ausgeweitet auf Geset-
zeserkenntnis in der Geschichte der Gesell-
schaft als Voraussetzung für ein Modell einer
gerechten Gesellschaft, das von der Arbeiter-
klasse durchzusetzen ist. Es findet eine Kon-
kretion der Subjektbildung statt - Vernunft ist
an Interesse gebunden.

Vernunft und Freiheit - die Gottheiten der bür-
gerlichen Aufklärung - der Kern des bürgerli-
chen Bildes vom Menschen, der eine Indivi-
dualität ist; bis hinein in die „Come-together“-
Zigarettenwerbung.

Zugrunde liegt die Verabsolutierung des Zu-
sammenhanges von Erkenntnis rationaler Art
und Handlung zuungunsten der weiteren Be-
ziehungen zwischen Erleben und Verhalten.
Dies führt zu Zweckrationalismus und Instru-
mentalismus, Extroversion bei Unterdrückung
der Introversion, Luxus statt Menschlichkeit,
Verkrampfung statt Ausgewogenheit zwischen
Anspannung und Ruhe, Abwehr statt An-
nahme.

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