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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Editor]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Funke, Rainer: Zur Kritik des rationalistischen Vernunftsbegriffs
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0090
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Genuß wird gegenständlich fixiert oder in
strenge Leitbilder gepreßt. Beziehungen zwi-
schen Menschen werden versachlicht - über
Geld und Waren - oder personalisiert als Mit-
tel der Beherrschung.

Emotionalität wird der Zweckrationalität unter-
geordnet, Passivität, Ruhe und Leiden werden
verdammt bzw. nur als Mittel zur Erlangung
gesteigerter Rationalität anerkannt, z. B. als
Reproduktion der Arbeitskraft.

Rationalität, Leistung, Effektivität und Ökono-
mie sind allgemein anerkannte Normative -
Vemunft kann nur sein, was damit korreliert.

Es zeigt sich, daß die einseitig rationalistische
Bewältigung der Erfordernisse des Überle-
bens der menschlichen Gattung das Überle-
ben der Gattung sozusagen auf höherer Stufe
in Frage stellt. Denn Rationalität ist Expansion,
doch der menschliche Lebensraum ist endlich.
Trotzdem: Vernunft bedeutet auch: „Denke
nach, bevor Du zuschlägst!“ Und: Zuschlagen
heute kann den Untergang aller bringen - es
braucht Vernunft, im Reich der materialisier-
ten Vernunft zu agieren. Zivilisation ist eben
ganz - die Systeme greifen ineinander, und
Neues entsteht nur durch Eingreifen neuer
Systeme. Vernünftig ist der, der die Bedingun-
gen und Folgen seiner Handlungen richtig er-
kennt und seine Handlungen entsprechend
intendiert und selektiert - alle Folgen seiner
Handlungen.

Doch mit dem Wort „alle“ sind wir beim Kern
des Probiems. Die Entwicklung der Zivilisation
zeigt: eben das ist unmöglich. Nie können wir
alle Folgen unserer Handlungen planen, nie
kennen wir alle Bedingungen für unser Han-
deln, niemals werden wir ideal handeln. Und je
komplexer unsere Handlungen werden, je
mehr an Wissenschaft und Technik hinter
und in ihnen steht, um so mehr Unbekanntes,
Ungeplantes, Ungewolltes geht einher. (Das
hatte uns schon Sokrates gesagt.)

Dies zu illustrieren reichen Stichworte: Atom-
energie, Gentechnik, Automobilverkehr, Me-
diensklaverei, Weltwirtschaft, Sozialismus.

Es fällt das biblische Wort von Matthäus
(16.24): „Was hülfe es dem Menschen, wenn
er die ganze Welt gewönne und nähme doch
Schaden an seiner Seele!“ Und Seelenscha-
den hat durchaus mit Apokalypse zu tun. Man
weiß das seit Jahrtausenden.

Die einseitig rationalistische Ausrichtung des
Vernunftsbegriffs läßt für die Seele keinen
Platz. Auch wenn wir seit Freud versuchen,
das Unbewußte mit Bewußtsein vemünftig zu
beherrschen. Solange die Zuwendung zum
Nicht-Vernünftigen im Rahmen des Paradig-
mas der rationalistischen Vernunft geschieht,
werden wir weiter Schaden nehmen.

Geht es darum, der Vernunft den Kampf anzu-
sagen?

Bei Theoretikern der Postmoderne könnte
man dies vermuten. Kamper postuliert: „Die
Macht der obersten Gerichtshöfe der Vernunft
geht zu Ende.“ /I/

Robert Spaemann stellt die Begriffe der Höher-
entwicklung, Verbesserung und Unendlichkeit
der gesellschaftlichen Entwicklung in Frage,
denn die Idee der Notwendigkeit und Univer-
salität des Fortschritts als Mythos der Moderne
sei in der Postmoderne gestorben.

Schließlich heißt es bei Derrida: „Wenn sich
die Moderne durch das Streben nach der ab-
soluten Herrschaft auszeichnet, so die Post-
moderne vielleicht durch die Erfahrung ihres
Endes ... Vielleicht ist es ein Charakteristikum
der Postmoderne, daß sie dieser Niederlage
Rechnung trägt.“ 121

Andreas Huyssen wirft hingegen ein: „In der
Tat ist durchaus zuzugestehen, daß es aufklä-
rerischer Rationalität allzuhäufig an Aufklä-
rung über sich selbst gemangelt hat, ein Vor-
wurf, der ja entgegen deutschen Gepflogen-
heiten nicht automatisch zum Überbordwerfen
von Vernunft schlechthin führen muß.“ /3/

Und die Wirklichkeit gibt ihm recht: Vernunft
mag bekämpft werden, die Vernunft des Kapi-
tals ist übermächtig und wirkt, denn noch funk-
tioniertdas Leben. Wenn Michel Foucaultfragt
„Wen kümmerts, wer spricht?“ /4/, so meint
das eben nicht den Tod des Subjekts und der
Autorität, sondern dessen Versachlichung und
Entpersonalisierung. Sind also die nächsten
Schritte durch die Fragen „Wen kümmerts,
was gesprochen wird?“ und „Wen kümmerts,
daß gesprochen wird?“ markiert?

Kann es also darum gehen, der Vernunft den
Kampf anzusagen?

Wohl kaum. Freilich haben wir ein neues Ver-
ständnis der Vernunft vonnöten.

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