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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Skerl, Joachim: Gestaltung als Schöpfungsakt: zum Aufsatz "Form und Kultus" von Paul Thiersch
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0127
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Joachim Skerl

Gestaltung als Schöpfungsakt

Zum Aufsatz „Form und Kultus“ von Paul
Thiersch/1/

Vernunft im Design:

Das Thema des Kolloquiums verleitet dazu,
sich als Designer in einer mehr und mehr „un-
vernünftigen“ Welt zu den wenigen Vernünf-
tigen zu zählen. Wenn es um den Vernunfts-
begriff im empirischen Sinne geht, mag es
stimmen, denn Vernunft wird immer von denen
definiert, die sie zu haben gtauben und zum
Gesetz ihres praktischen Handelns machen.
Praktische Vernunft ist - nach Kant - auf die
„Bestimmungsgründe des Willens Gegen-
stände hervorzubringen“ bezogen.

Jahrtausende der Gestaltung menschlicher
Umwelt aber sind mit „praktischer Vernunft“
nicht zu deuten, weil ihr Entstehen nicht allein
dadurch geleitet war. Eine gotische Kathedrale
ist in ihren Proportionen ein „unvernünftiger“
Bau, ein Barockschrank ist ein höchst „unver-
nünftiger“ Stauraum und die Vemunft, die hin-
ter dem Design eines Autos steht, wird nur
schwer zu erklären sein.

Die praktische Vernunft der praktischen Dinge
scheint als Erklärung für Gestaltung nicht aus-
zureichen, weil darin nicht allein die Ursache
für Gestaltung liegt.

An diesem Punkt setzt Kants „Kritik der prak-
tischen Vernunft“ (1788) an, „die empirisch
bedingte Vernunft von den Anmaßungen ab-
zuhalten, ausschließungsweise den Bestim-
mungsgrund des Willens allein abgeben zu
wollen.“ Praktische Prinzipien, bezogen auf
„einen Gegensand dessen Wirklichkeit be-
gehrt wird“, sind nach Kant „insgesamt empi-
risch und können keine praktischen Gesetze
abgeben“.

Kant folgend können Gesetze der Vernunft,
auch der Vernunft im Design, nicht von den
Dingen abgeleitet werden.

Nur der freie Wille, der unabhängig von den
empirischen, zur Sinnenwelt gehörigen Din-
gen ist, vermag das Gesetz, dem die Vernunft
zugrunde liegt, zu finden. !M

Worauf beruht der Wille des Menschen zur
Form? Was veranlaßt ihn, den Dingen, die er
erschafft, eine bestimmte Gestalt zu geben?
Die Antwort scheint einfach: Form ist sinnli-
ches Zeichen für den Gebrauch und interpre-
tiert den Herstellungsprozeß. Die formbeein-
flussenden Bedingungen sind berechenbar,
nachvollziehbar, wiederholbar.

Weiterhin Kant folgend wäre jedoch der Wille
zur Form bestimmt von einem Gesetz der Ver-
nunft, das in einer „höheren unveränderlichen
Ordnung der Dinge“ in der „absoluten Totalität
der Bedingungen“ beruht und über die ge-
nannten rein empirischen Bedingungen hin-
ausgeht. Aber nur die Dinge sind erfaßbar.
Bereits Kant suchte nach dem Schlüssel, „die
absolute Totalität der Bedingungen“ aus dem
„Bedingten“ in den Dingen herauszulösen, um
zum Gesetz zu gelangen. /3/

Diesem dialektischen Widerspruch zwischen
der Bedingtheit in der Erscheinung der Dinge
und den „Dingen an sich“ geht Paul Thiersch in
dem genannten Aufsatz nach, um die Frage
nach der höheren unveränderlichen Ordnung
der Dinge zu beantworten.

Die „Jahrbücher für die geistige Bewegung“, in
denen der Aufsatz erschien, standen dem
„Kreis“ um den Dichter Stefan George nahe.
Zu ihren Autoren gehörten Friedrich und Ernst
Gundolf, Kurt Hildebrandt, Karl Wolfskehl,
ebenfalls wie Paul Thiersch Mitglieder des
„Kreises“, in dem mehr über Platon, Schopen-
hauer und Nietzsche, als über Hegel und
Marx, diskutiert wurde. /4/

So kann es nicht verwundern, daß Thiersch
unter diesem Einfluß eine Gestaltungsdeu-
tung vornimmt, die sich von dem von Hegel
beeinflußten Funktionalismus entfernt, um
sich Schopenhauers Objektivität des Willens
und Nietzsches Begriffs des Werdens und der
Tat zu nähern. /5/

Die gestaltenden Künste sind „Ausstrahlung
höheren Willens“, nicht Ausdruck eines
Zwecks oder retrospektive Kunst.

Trotz der 1911 erkennbaren Ansätze einer Re-
form der künstlerischen Gestaltung - erinnert
sei an die Kunstgewerbeausstellung Dresden
1906 und die Gründung des deutschen Werk-
bundes 1907 - geben Thiersch die herrschen-
den Strömungen des Zeitgeschmacks ein „Bild
völliger Verwirrung“.

Nur schwer sei der Wille nach künstlerischer
Form erkennbar.

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