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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Editor]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Skerl, Joachim: Gestaltung als Schöpfungsakt: zum Aufsatz "Form und Kultus" von Paul Thiersch
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0128
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„Diametral auseinanderdrängende Richtun-
gen kämpfen um die Herrschaft eines willkür-
lichen Prinzips“.

Die „Probleme der Zeit“, die mit der Reform der
Kunstgewerbebewegung nach 1900 gelöst
werden sollten, würden, so hatte man ge-
glaubt, auch zu einem neuen zeitgemäßen Stil
führen.

Heute wird klar, daß sich diese Erwartungen,
die das ganze 20. Jahrhundert begleiteten,
nicht erfüllen konnten.

Thiersch warderlrrtum 1911 bewußt:

„Vor allem werden, ein Trugschluß, die Pro-
bleme der Zeit als Mittler eines neuen Stils,
das Mittel überhaupt zum Primären erhoben,
verkündet“. Die Beschreibung der Folgen die-
ses Irrtums hat bis heute nicht an Aktualität
verloren.

Statt des geistig Schöpferischen sei unsere
Zeit „voll gesättigt von der Überfülle der aufge-
türmten Ablagerungen entseelter schaffender
Kraft“. „Monumentalität in der Ökonomie der
Kunst, Ausdruck höchster Steigerung des Gei-
stigen, nicht eines Zweckes wird ins zufällige
Objekt verlegt; dimensionale Forderungen al-
lein zur Wirkung des Gewaltigen gebracht
brüllen die Hohlheit ihrer Prätention aus. Tech-
nische Mittel als die mechanische Kraft
mathematischer Gebilde werden durch bisher
unerreichte reale Wirkungen irreführend be-
reits in ihren Rohformen zu künstlerischen
Werten erhöht. Wo Fragmente geistiger Güter
verwaltet werden, herrscht größte Verwirrung
im Gebrauch der Ausdrucksmittel.“ /6/
Thiersch begreift das Wesen der Form „aus
der Einheit von Geist und Gestalt“.

Der Unterwerfung unter die „Bedingtheit der
Dinge“ stellt er den Willen zur Form und die To-
talität des Gesetzes gegenüber, freigesetzt im
schöpferischen Handeln.

1. Gestaltung als schöpferische Tat
„Das Tun ist alles.“

(Nietzsche: Zur Genealogie der Moral,
1887)

Thiersch steht, beeinflußt durch den George-
„Kreis“ und Nietzsche, in derTradition der Phi-
losophie des Werdens im deutschen Geistes-
leben.

Heraklit von Ephesos ist das Vorbild und Urbild
für Nietzsches radikale Ablehnung auch selbst
des Begriffes ,Sein‘.

Für Heraklit ist alles im Strome des Werdens
begriffen, im Widerstreit positiver und negati-
ver Bestimmungen. Das Universum ist Aus-
druck ewiger positiver und negativer Bestim-
mungen. Das Universum ist Ausdruck ewiger
Wandelbarkeit. Das Werden, der .Streit der
Dinge' ist die Rechtfertigung des Seins, weil
das vergängliche Subjekt dafür nicht erforder-
lich ist. Nietzsche beruft sich auf Schopen-
hauer und zitiert aus dem ersten Buch „Die
Welt als Wille und Vorstellung“, um den Begriff
des „Werdens“ zu verdeutlichen, daß das
ganze Wesen der Wirklichkeit eben nur Wirken
sei und daß es für sie keine andere Art Sein
gibt. Das Sein der Materie ist ihr Wirken. 171
Es ist die Verabsolutierung der Aktion im Ge-
genwärtigen, in der Vergangenheit und Zu-
kunft gleichermaßen aufgehoben sind.

Daraus entsteht eine Ästhetik des Willens und
der Aktion. „Wo ist Schönheit? Wo ich mit
allem Willen wollen muß, wo ich lieben und
untergehen will, daß ein Bild nicht nur Bild
bleibt.“ 181

Das Schöne ist auch für Thiersch „der höchste
Inbegriff von Sein und Tat“.

Im Handeln als dem ständig sich wiederholen-
den Schöpfungsakt liegt das Urgesetz des
Kosmos.

Aus dieser Kraft entsteht der Wille zum Ge-
stalten, als einer „seit ewig im Kosmos walten-
den Schöpfungskraft, von mächtigen geistigen
Zentren in ihren Bann gezogen, schöpferisch
wieder ausstrahlend, nach einem Gesetz kos-
moswiederbildend, eine Welt in der Welt schaf-
fend“, wie Thiersch es später bezeichnete. 19/

Form ist im „Ringen um das Leben“ entstan-
den. Es gibt keine Form an sich und keine In-
halte, die sich aus der Form ergeben. Das Le-
ben selbst gestaltet sich die Form. /10/
Thiersch’s Formbegriff ist immer mit einem le-
bendigen Entstehen und einem werkhaften
Herstellen verbunden.

Es entspricht einer grundsätzlichen Haltung,
zieht sich durch alle Schriften und mündet
schließlich im kunstpädagogischen Modell der
Giebichensteiner Schule.

Aus dieser Haltung heraus konnte der Aka-
demismus bisheriger Kunsthochschulbildung
durchbrochen werden, die Thiersch wie folgt
interpretiert: „Die Ausbildung auf Kunsthoch-

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