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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Noack, Klaus-Peter: Sinn und Unsinn der Vernunftkritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0095
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Klaus-Peter Noack

Sinn und Unsinn der
Vernunftkritik

Die gegenwärtige verworrene Lage der Ver-
nunftkritik ähnelt der bekannten Büste Voltairs
von Dali. Diese Büste Voltaires, das Antlitz der
Vernunft, ist nicht ohne Anstrengung zu erken-
nen, leicht entgleitet sie unserer Wahrneh-
mung. Sind es auf Dalis Bild zwei Mönche, die
sich immer wieder hervordrängen, so sind es
für viele von uns in bezug auf die vernunftkriti-
sche Diskussion, vor allem im Zusammenhang
mit dem Postmodernismus, Beliebigkeit, Will-
kür, Subjektivismus, eben „Anything goes“,
Chaos, Verantwortungs- und Kritiklosigkeit in
der Gestaltungsarbeit.

Ebenso, wie das Bild zwei Lesarten zuläßt, so
auch die Situation der Vernunftkritik, und von
keiner der Lesarten kann gesagt werden, daß
sie die einzig richtige ist.

Es gibt einen Postmodernismus der Beliebig-
keit mit einer Tendenz zur Zerstörung aller
Maßstäbe, eine Vielzahl von Angriffen auf die
Vernunft, die auf eine Entmachtung kritischer
Rationalität hinauslaufen, ebenso aber auch,
teilweise bei den gleichen Leuten und oft unter
dem gleichen Schlagwort „Postmodernismus“,
Tendenzen, Anstöße und Ansätze zur Ent-
wicklung von Vemunftskonzeptionen, in der
die Frage nach Maßstäben für die Kritik von
Designarbeit in bestimmter Hinsicht auf eine
anspruchsvollere und strengere Weise gestellt
werden kann. Falls dies unter dem Namen
„Postmodernismus“ geschieht, wäre das ein
achtenswerter Postmodernismus, der dieses
Attribut tatsächlich verdient. /I/

Fragen wir nach Sinn und Unsinn der Ver-
nunftkritik, so ist herauszufinden, welche Art
von Vernunftkritik eine fruchtbare Auseinan-
dersetzung mit den realen Problemen des De-
signs ermöglicht.

Eine der größten Schwierigkeiten, die sich der
Klärung dieser Frage entgegenstellt, bilden ir-
reführende Rhetoriken, dadaistische Provoka-
tion oder französischer Chic, in denen die Ver-

nunft verbal verabschiedet wird, während der
Sache nach vielfach lediglich eine bestimmte
Vernunftauffassung auf der Grundlage einer
höheren, raffinierteren, erweiterten, reicheren
Vernunftauffassung kritisiert wird.

Ebenso gibt es neben diesem scheinhaften Ir-
rationalismus aber auch radikale Angriffe auf
die Vernunft, die sehr rational aussehen. Inso-
weit solche Argumentationen neue Möglich-
keiten der Kritik von vorgeblichen Maßstäben
des Vernünftigen erschließen, führen sie auch
tatsächlich zu einem Mehr an Vernunft, denn
die Begründung und Kritik von Verbindlichkeit
beanspruchenden Maßstäben des Erkennens,
Handelns und Urteilens ist das höchste Ge-
schäft der Vernunft. Indem sie aber in der
Maßstabslosigkeit, der Beliebigkeit enden,
verkommt hier Vernunft zu einem Prozeß
geistreicher Selbstzerstörung.

Ob eine Vernunftskritik zu einem Mehr an Ver-
nunft führt, verlangt also sehr genaues Hinse-
hen; wobei die Gefahr, Irrationalismus dort zu
erblicken, wo er nicht vorliegt, in unserem Zu-
sammenhang die eigentlich ernstzunehmende
Gefahr darstellt. Sie verführt einen Anhänger
der Vernunft nur allzuleicht zur Verteidigung
von Vernunftkonzeptionen, die dieses nicht
verdienen und verstellt die Sicht auf notwen-
dige Verbesserungen unseres Vernunftsver-
ständnisses.

Wenden wir uns nun der Betrachtung zweier
wichtiger Grundzüge zeitgenössischer Ver-
nunftkritik zu: der Betonung der Grenzen und
der mehrfachen Pluralität der Vernunft.

Eine der hervorstechendsten Tendenzen in-
nerhalb gegenwärtiger Vernunftkritiken richtet
sich gegen intellektualistische Züge, die eine
Vielzahl von Vernunftauffassungen prägen.
Diese Kritik ist für den designtheoretischen
und -programmatischen Zusammenhang vor
allem unter dem Gesichtspunkt interessant,
daß mit vielen intellektualistischen Vernunft-
konzeptionen Normierungen des Menschli-
chen einzig nach Maßgabe eines eng gefaß-
ten Vernünftigen verbunden sind.

Das Vemünftige wird zu DEM Maßstab des
Menschen gemacht, d. h. dieser ist um so mehr
Mensch, je vemünftiger er ist. Vernunft wird
damit zum obersten Wert der Zivilisation erho-
ben. (Man denke etwa an die Auseinanderset-
zung von Adolf Loos mit dem Ornament!)

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