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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Noack, Klaus-Peter: Sinn und Unsinn der Vernunftkritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0096
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Wie Hartmut und Gernot Böhme in ihrem Buch
„Das Andere der Vernunft“ gezeigt haben, ent-
halten derartige Vernunftkonzeptionen die For-
derung nach einer bestimmten Selbststilisie-
rung des Menschen: „Vernünftig zu sein be-
deutet eine bestimmte Organisation des Men-
schen im Verhältnis zum Leib, zu den Ge-
fühlen und Begierden, zur äußeren Welt. Es ist
der Intellektuelle, der sich mit der Vernunft zum
Maß aller Dinge - zu allererst aber aller Men-
schen macht.“ 121 Das Nichtrationale wird da-
mit aus dem menschlich Normalen ausge-
schlossen. Dieser Ausschluß des Anderen der
Vernunft, der Natur im Menschen „mit ihren an-
archischen Glücksimpulsen“ /3/, des Triebhaf-
ten, des Unterbewußten, der Begierden, der
Gefühle, des Dionysischen aus dem Mensch-
lichen und den damit verbundenen Konse-
quenzen seiner Verdrängung, ist ein Thema,
das auch in der designtheoretischen Debatte
vielfältige Kritiken an intellektualistischen Ver-
nunftkonzeptionen herausgefordert hat.

Auf unserem letzten Kolloquium habe ich be-
reits den intellektualistischen Charakter des
theoretischen Kerns von Haugs Kritik der Wa-
renästhetik kritisiert. Diese Konzeption läuft,
entgegen Haugs erklärten Absichten, auf die
von den Böhmes hervorgehobene Normierung
des Menschiichen, hier des menschlich freien
Umgangs mit Gegenständen, am Maßstab
des Intellektuellen hinaus. Es handelt sich im
Kern um die Einengung der menschlich freien
Gegenstandsbeziehung auf den eiskalten,
„trockenen Blick“ (Descartes) auf den eng ge-
faßten Gebrauchswert der Ware. In letzter
Konsequenz wird damit ein elitärer Ge-
schmack an betont zurückhaltender, sachli-
cher Gestaltung zum einzig legitimen Ge-
schmack erklärt.

Gegen diese und andere intellektualistisch
normierende Vernunftauffassungen werden
von mehreren Seiten insbesondere die folgen-
den zwei engstens zusammenhängenden Ar-
gumente vorgetragen:

I.Sie verkennen und reduzieren mit ihrem
Ausschluß des Anderen der Vemunft die
Fülle des Menschlichen und sind vielfach
mit einer Einengung der Vernunft verbun-
den, wenn z. B. die Einbildungskraft ausge-
klammert wird.

2. Sie laufen damit auf einen Terror der Ver-
nunft, auf die Verdrängung des Anderen der
Vernunft, auf seine Unterdrückung hinaus.
Im Zusammenhang des Designs kommt es
z. B. zur Diktatur eines elitären, eines Ex-
pertengeschmacks gegenüber dem soge-
nannten Massengeschmack. Die Bedürf-
nisse des Massengeschmacks werden als
illegitim aus den Themen der Gestaltungs-
arbeit ausgeschlossen.

Nach Nietzsche und Freud und einer Un-
menge zivilisationskritischer Arbeiten über
die im Namen derartiger Vernunftauffassun-
gen betriebenen umbarmherzigen Disziplinie-
rungsversuchen am Menschen, kann der Intel-
lektualismus heute kaum mehr in einer ernst-
zunehmenden Weise vertreten werden.

Sein normierender Versuch, das Gesamte des
Menschlichen umfassen zu wollen, ist auch
als anmaßende Überschreitung der Vernunft-
grenzen zurückzuweisen, weil ein nurvon Ver-
nünftigkeit beherrschter Mensch, ohne Triebe,
Begierden und Gefühle, ein antriebs- und da-
mit willenloses Wesen wäre.

Erinnern wir uns daran, daß speziell in
Deutschland Aufklärung zumeist mit Intellek-
tuaiismus assoziiert wird, so stellt sich die
Frage, ob mit dem Intellektualismus und spe-
ziell mit dem Herrschaftsanspruch entspre-
chend orientierter und agierender Experten
nicht zugleich die Aufklärung insgesamt zu
verabschieden ist. Tatsächlich jedoch haben
die Bemühungen, sich von der Herrschaft von
Experten zu befreien, nichts mit einem Ende
der Aufklärung zu tun, sondern sind vielmehr,
worauf insbesondere Feyerabend hingewie-
sen hat, als Versuche zu bewerten, mit der
Aufklärung endlich Ernst zu machen. /4/ Dabei
kann er sich auf Kants Beantwortung der
Frage „Was ist Aufklärung?“ berufen:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen
aus seiner selbst verschuldeten Unmündig-
keit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich
seines Verstandes ohne Leitung eines ande-
ren zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese
Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben
nicht am Mangel des Verstandes, sondern der
Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner
ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sa-
pere aude! Habe Mut, dich deines eigenen

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