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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Woderich, Rudolf: Neue Lebensstile - wider die Vernunft?
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0139
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Rudolf Woderich

Neue Lebensstile - wider die
Vernunft?

Mein Beitrag versteht sich als eine Anmerkung
zu jener Debatte, die am gestrigen Nachmittag
einsetzte, als das Stichwort „life-style“ gefallen
war. Dabei handelt es sich zunächst nur um die
Annäherung an ein Thema, das die sozialwis-
senschaftliche Forschung künftig intensiver
beschäftigen wird. Die Lebhaftigkeit der spon-
tanen Repliken ist gewiß nicht fehlgedeutet,
wenn sie als beredtes Zeugnis für das gestei-
gerte Interesse an derartigen Phänomenen
ausgelegt wird.

Ich lasse mich davon ieiten, daß es sich bei
der Ausdifferenzierung und Pluralisierung von
Lebensstilen im Gefolge von Individualisie-
rungsschüben um einen substantiellen Vor-
gang handelt, der derzeit ablaufende Moderni-
sierungen in den Gesellschaften des Westens
kennzeichnet. Die politische und praktische
Bedeutung derartiger Thematisierungen im
Prozeß nachzuholender Modernisierung in
den neuen Bundesländern besteht nicht zu-
letzt darin, Konfliktpotentiale abbauen zu
helfen, die in der wechselseitigen Wahrneh-
mungsweise entstehen können, wenn es nicht
gelingt, jene in den visuellen Erscheinungsbil-
dern, im Habitus der Akteure symbolisierten
Lebensstile, -weisen und -formen zu ver-
stehen. Die gelegentlich und immer häufiger
signalisierten Asynchronitäten in der interper-
sonellen Kommunikation sind Symptome die-
ser Problemlage.

Alltagssprachliche Topoi aus dem Blickwin-
kel der Ostdeutschen, etwa die vermeintliche
„Arroganz“ der Westdeutschen oder deren
„Lockerheit“ zielen ebenfalls in diese Richtung.
Aber nicht nur im lebensweltlichen Alltags-
denken, auch in den intellektuell-reflektieren-
den, wissenschaftlich-systematischen Denk-
mustern und -strukturen, wie sie sich in der
ehemaligen DDR entwickelt und partiell verfe-
stigt haben, sind Klischees und Schemata in
Lernprozessen abzubauen.

Im Verweis auf einige kulturell relevante und
im ästhetischen Verhalten artikulierte Aspekte

neuer Lebensstile beziehe ich mich im folgen-
den hauptsächlich auf Positionen, wie sie in
der Publikation von Gertrud Höhler „Offene
Horizonte. Junge Strategien verändern die
Welt“ (1988) dargestellt sind. Allerdings dek-
ken sich die aus persönlichen Beobachtungen
und hermeneutischen Deutungen geschöpften
Auffassungen der Autorin mit Erfahrungen und
Daten in Bereichen des Marketings und ande-
ren empirischen Analysen. Ich bitte ferner um
Verständnis dafür, daß die zu Grunde gelegte
Materialbasis relativ schmal ist. Ohnehin kann
nur ein Schlaglicht auf die eingangs formulierte
Fragestellung geworfen werden.

Erste Anmerkung: Der Konsumrausch ist
passe.

Im Gegensatz zu einschlägigen Darstellungen
in den Medien, die vom anhaltenden Konsum-
rausch im Übergang zu den neunziger Jahren
sprechen, wird festgestellt, daß die undistan-
zierte Gier nach der Ware geradezu geäch-
tet wird, die Unabhänaiakeit von den rohen
Reizen der Warenwelt genossen, die Gelas-
senheit gegenüber „den prallen Lagern unse-
rer Konsumtempel“ habituell herausgestellt
wird. Der selbstbestimmte Bedürfnisaufschub
werde als angemessen empfunden, „der un-
erfüllte aufgesparte Wunsch wird kultiviert,
umhegt, ausphantasiert, weil die Eindimen-
sionalität der Sofort-Erfüllung erkannt ist“. Tief
eingeschliffen sei die Höherbewertung des
Verzichts als eine Form des Genusses und
Selbstgenusses.

Zweite Anmerkung: Wechsel der Stile und For-
men.

Eine Vielzahl von Tastreizen, Gefühlen und
Geschmäckern wird erprobt - nicht primär, in-
dem viele Waren gekauft, sondern dadurch,
daß die Warenpaletten spielerisch wägend
durchstreift werden. Fast food und Nobel-
restaurant; der hochmodische Anzug und der
Jeanslook bilden keinen Gegensatz, sondern
werden wechselseitig erprobt. Das Selbstwert-
gefühl ist aktionsbezogen, weniger statusab-
hängig. Verschiedene Lebensstile werden im
Laufe der Biografie - nicht nacheinander, son-
dern auch parallel zueinander - gleichsam in
gelassener Souveränität durchwandert.

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