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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Editor]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Woderich, Rudolf: Neue Lebensstile - wider die Vernunft?
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0140
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Nicht aiso die habituelle Verfestigung von Di-
stinktionsgewinnen, die die Reproduktion des
sozialen Status in ständig unveränderter Wie-
derkehr absichert, wie Pierre Bourdieu für die
französische Gesellschaft festgestellt hat, son-
dern eher der Wechsel der Stile und Formen,
deren mannigfache Überlagerungen ein Sym-
ptom sind für Prozesse sozialer Angleichung in
den Formen der ästhetischen Ausdifferenzie-
rung, wird bei Gertrud Höhler, aber auch in
einer Reihe anderer Untersuchungen für die
westdeutsche Gesellschaft registriert.

Dritte Anmerkung: Das Transzendieren des
Materiellen.

Jenseits des Rationellen werden derzeit rie-
sige unerforschte Gebiete vermutet, an deren
Rand gerade der erste Fuß gesetzt wird. Ex-
kursionen in derartige Gefilde finden nicht, wie
vielfach vermutet, jenseits moderner Technik
statt, sondern gründen in den neuen Möglich-
keiten, die deren hochtechnologische Basis
bietet. So ist der Musikgenuß von der CD-
Platte derartig entrückt von den materiellen
Bedingungen des Produzierens, daß er als
Musik pur erscheint und das Transzendieren
ins Immaterielle geradezu nahelegt.
Informationen in den Medien sind vielfach ge-
rade auf das Atmosphärische gerichtet. In Mo-
dejournalen dominieren Fotos, die weder auf
konkrete Kreationen noch auf deren Autoren
verweisen, sehr wohl aber den Erwartungs-
haltungen der Leserinnen entsprechen: „Das
Design der Fotografie überlagert die simple
Nachricht und das Design der Mode; eine Aura
wird transportiert, gemischt aus dem Medium
und der Botschaft; abgedichtet gegen die Ba-
nalität der Wirklichkeit, mit dem Auftrag, den
Beschauer zu entführen in seine eigenen
Träume.“ (Höhler 1989)

Wenn also von einer Tendenz zum Immateriel-
len in den kulturellen Orientierungen die Rede
ist, dann bezieht sich dies nicht etwa auf eine
Revitalisierung geistigen Reflektierens, son-
dern auf eben jenen „faszinierenden Punkt,
an dem Materielles in Erlebnisqualität über-
geht“.

Vierte Anmerkung: Koinzidenz von Leistung
und Genuß.

In den neuen Lebensstilen der Jungen scheint
der Gegensatz von Hedonismus und Purita-
nismus aufgehoben. Das korrespondiert mit
einer Vielzahl von Ergebnissen soziologischer
Untersuchungen, die eine neue Verbindung
von Pflicht- bzw. Akzeptanzwerten mit Selbst-
entfaltungswerten diagnostizieren (Helmut
Klages u. a.).

Zu den neueren Tendenzen gehört offenbar
jene kulturelle Orientierung, daß Leistung nicht
um ihrer selbst willen anerkannt und als wert-
voll geschätzt wird, sondern nur insofern, daß
sie genußvoll und erlebnisbetont vollbracht
wurde; unter Bedingungen also, die zugleich
den Selbstgenuß der eigenen Person ermög-
lichten. Anders gesagt: Leistung ist vorausge-
setzt, darüber daß sie souverän, professionell,
gleichsam „schwerelos“ also scheinbar mühe-
los absolviert wurde, spricht man nicht, son-
dern artikuliert dies als Lebensgefühl im indivi-
duellen Habitus, in der Sprache des Körpers,
in den Kleidermoden etc.

Die grobe Skizze wesentlicher Aspekte, die mit
der Ausbildung neuer Lebensstile verbunden
sind, versteht sich nicht als Affirmation jener
Beobachtungen und Deutungen, welche die
Autorin gibt, auf die hier hauptsächlich Be-
zug genommen wurde. Unterstellt werden darf
auch nicht eine Generalisierung derartiger
Tendenzen für alle Milieus, soziale Lagen und
Lebensformen. (Allerdings denke ich, daß ha-
bituelle Tendenzen besonders in den jüngeren
Generationen ehemaliger DDR-Bürger, die ich
seit längerer Zeit in meinem Umfeld zu beob-
achten glaube, so fernab von den hier be-
schriebenen Erscheinungen gar nicht gelegen
sind.)

Umstritten bleiben auch weiterhin die emanzi-
patorischen Gehalte neuer Lebensstile und
deren Ästhetisierung. Unbestritten aber dürfte
sein, daß jene apokalyptischen Visionen über
die totale Subsumtion der Individuen unter die
Allmacht warenästhetischer Versuchungen
eben nicht eingetroffen sind. Hier scheint viel-
mehr auf der Ebene der Empirie, der real ge-
lebten Formen und Weisen im Umgang mit
dem gegenständlichen Reichtum, etwas sicht-
bar zu werden, das die Theoreme von der Re-

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