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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Schreiber, Dieter: Gestalterisches und menschliches Maß - eine Kontroverse mit der Vernunft?
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0122
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So fällt nicht nur Insidern des Designs auf, daß
der allgemeine Verständnishorizont von De-
sign mittlerweile inflationäre Dimensionen an-
nimmt, daß industrielle Formgestaltung, also
die Großserie, vielfach eine Gestaltungs- und
Werbekultur impliziert, die allein in der Ergo-
nomie und dem „scheinbar“ Verkaufbaren
(z. B. in Präsentationsformen des Gewöhnli-
chen als u. U. Ungewöhnliches) den mensch-
lichen Maßstab gefunden glaubt.

Auf diesem Hintergrund realisieren sich ästhe-
tische Ansprüche leider eher über Aussagen
der Produktwerbung als durch die Sache
selbst.

Hier ordnen sich auch „neu“-klassisch-funktio-
nalistische Credos ein, die für das Design
Funktionalität und Intelligenz ausdrücklich ge-
genüber Emotionalität und Interessantheit so-
wie einem niveauvollen Harmoniebestreben
favorisieren.

Daß derartige Geistespositionen im Design
außerordentlich widersprüchlich, sowohl ge-
stalterisch als auch verbal, kommentiert wer-
den, die jeweiligen Vertreter allerdings durch-
aus erfolgreich sein können, hat nicht zuletzt
und vielfach zu einer Haltung geführt, die wir
heute mit der Wortmarke „anything goes“ um-
schreiben, und die die eingangs benannte Be-
griffsdiffamierung des Designs mit beschleu-
nigte.

3. Angesichts dieser Situation, der in ihr Agie-
renden (Gestalter, Nutzer, Unternehmer etc.)
und ihrer sozialen, kulturellen, ökonomischen
und ökologischen Auswirkungen, ist schon
nach der Tauglichkeit des Vernunftbegriffes als
moralischer imperativ für das verantwortungs-
bewußte Ausmachen von Wert- und Hand-
lungsmaßstäben zu fragen.

Die Antwort fiele negativ aus, wenn Vernunft
einseitig in Rationalitätskonzepten bisheriger
Provenienz begründet ist.

Mit diesen verbindet sich ja heute die Erkennt-
nis, daß ihre rigorose Fortschreibung die Ge-
fahr des Verlustes der Biosphäre in den näch-
sten zwei Menschenaltern in sich birgt und
bei gleichzeitigem Export der „Segnungen“ in-
dustrieller zivilisatorischer Entwicklung in die

3.Welt sich diese Situation noch verschärfen
wird.

Wie wir heute leider feststellen müssen, impli-
ziert die Stoßrichtung dieser überkommenen
Vernunftskonzepte eine vereinheitlichende
Uniformierung des Denkens und Handelns.
Sie äußert sich hintergründig in Formen der
Überzeugung von der Sonderstellung des
Menschen im Weltökosystem sowie im Mythos
von der Beherrschbarkeit der Natur durch die
Technik) mit mittlerweile voraussehbaren kata-
strophischen Folgeerscheinungen.

Sie äußert sich vordergründig in den bereits
erwähnten „zeitgemäßen“ Gestaltungsphilo-
sophien und kommt kaum in Schritt mit den
auf unterschiedlichen Gebieten des Lebens
sich auftuenden Ansätzen, inzwischen schon
begangenen Wegstrecken zum Paradigmen-
wechsel.

Eine positive Antwort auf die Frage nach der
Tauglichkeit der Vernunft zur Maßstabbildung
im Design wäre dementsprechend dann zu
erwarten, wenn gestalterisches Handeln Er-
kenntnisse aufnimmt über

- ein neues Verständnis für Umweltkonzepte,
ausgelegt auf die verschiedensten Ebenen
menschlichen Handelns, das sich nicht in
einer neuen Kurz-Sicht auf das Unmittel-
bare beschränkt

- ein ganzheitliches, wirklich emanzipatori-
sches Selbstverständnis des Menschen,
das sich endlich realistisch als Teil des uni-
versellen Systems begreift

- Zusammenhänge, Abhängigkeiten gesell-
schaftlich-sozialer, natürlicher und künstlich
gestalteter Umwelten.

Dementsprechend ist zu fordern, daß die kriti-
sche Reflexion des Vernunftsbegriffs im De-
sign einseitige Verständnisse, illusionsbela-
dene Menschheitsorientierungen sowie eindi-
mensionales, geschlossenes Denken zu sus-
pendieren hat. Es muß diese Defizite tat-
sächlich bewußtmachen, neben unmittelbar
praktischen Konsequenzen auch umfassend
theoretisch initiativ werden, kurz, sich vom
Reagierenden mehr und mehr zum Agieren-
den entwickeln.

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