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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Meurer, Bernd: Gestaltung Mythos Vernunft
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0038
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in den zwanziger Jahren ein zentrales Thema
der gestalterischen Auseinandersetzung war.
Und der Anspruch auf kulturelle Autonomie
aller war schon zur Zeit der bürgerlichen Re-
volution ein Element der gestalterischen Mo-
derne. Gottfried Semper verlangte 1851 in
seiner Schrift „Kunst, Wissenschaft und In-
dustrie“, daß Selbstbestimmung an die Stelle
kultureller Fremdbestimmung zu treten habe.
Von derdarin liegenden Hoffnung, die Unmün-
digkeit zu überwinden, hat sich nur wenig er-
füllt. Gestaltung hat für sich allein darüber
keine Macht. Abd'r sie ist der Ort, an dem sich
diese Auseinandersetzung kulturell austrägt.
Schließlich heißt Gestaltung Veränderung der
Praxis.

Offensichtlich gibt es wichtigere Aufgaben für
die Gestaltung, und ich würde hinzufügen
auch interessantere, als die ästhetischer Kri-
senbewältigung. Die feinste Form der Ablen-
kung von den Problemen unserer Lebenswelt
ist die ihrer Ästhetisierung. Die ästhetische
Devise ,anything goes‘ ist so, wie sie in der
heutigen Architektur- und Designdebatte stra-
paziert wird, eine technokratische. Vieles geht
eben nicht, nicht nur technisch ökologisch
sondern auch sozial kulturell. Sinnvoll ist die
Fortentwicklung der Gestaltung nur, wenn sie
emanzipatorisch nützt und wenn sie dazu
beiträgt, mit weniger Ressourcen die Qualität
unserer Lebenswelt auf dieses Ziel hin zu ver-
ändern.

Obwohl uns das technologische Instrumenta-
rium zur Verfügung steht, die Umwelt ökolo-
gisch zu denken und zu gestalten, wurden die
Zersetzungsprozesse bislang weder umge-
kehrt noch aufgehalten. Sie haben sich be-
stenfalls verlangsamt. In der herkömmlichen
Gestaltungspraxis bleibt der Gesamtkontext,
in dem allein die miteinander verflochtenen
Fragen der ökologischen, sozialen und kul-
turellen Entwicklung wirksam zu behandeln
wären, schon aufgrund der disziplinären Ein-
grenzungen und Zersplitterungen weithin un-
berücksichtigt.

Das beginnt mit der Frage nach dem, was Ge-
staltung umfaßt. Thema von Architektur und
Design ist nach üblichem Verständnis die Welt
der Produkte. Aber die gestalterische Struktur
eines Bauwerks, eines Gegenstandes und
eines Kommunikationserzeugnisses läßt sich

nicht losgelöst von dem Kontext, in dem sie
steht, denken. Die physikalische Gestaltung
unserer Umwelt ist von der soziaien nicht zu
trennen. Im allgemeinen aber finden die Zu-
sammenhänge, aus denen die Produkte her-
vorgehen und in denen sie stehen, gestalte-
risch nur rudimentär Beachtung. Nicht nur
das in der Öffentlichkeit wachsende Problem-
bewußtsein stellt diese Praxis in Frage. Auch
die forlschreitende technologische Vernetzung
verlangt, wenn auch aus anderen Motiven,
fachübergreifendes Denken und Handeln.

Interdisziplinarität hat jedoch so, wie sie bis-
lang praktiziert wurde, nicht vermocht, die Pro-
bleme, die den Unzulänglichkeiten des Spe-
zialwissens entspringen, zu mindern. Und wir
wissen auch, zu einem vorarbeitsteiligen Zu-
stand läßt sich nicht zurückkehren.

Um Probleme hoher Komplexität fachüber-
greifend zu handhaben, bedarf es der Erfor-
schung integrationswirksamer Handlungs-
und Gestaltungsmöglichkeiten. Auf seiten der
Industrie arbeitet man daran seit geraumer
Zeit. An den Institutes for Advanced Studies
wie etwa dem Berliner Wissenschaftskolleg
nimmt die Erforschung fachübergreifend in-
tegrativer Arbeitsformen eine entscheidende
Stellung ein.

Die künftige Praxis wird sich nicht mehr wie
bislang in immer feiner untergliederte Einzel-
praxen auseinanderdividieren lassen. Dem
stehen Fachgebiets-, Branchen-, Konzern-
und Nationalgrenzen entgegen. Entsprechend
sind die gegebene Gestaltungspraxis und die
zugehörige Ausbildungsstruktur gegliedert.
Sie sind auf den arbeitsteiligen Spezialisten
und damit auf Berufsbilder fixiert, von denen
viele in Zukunft so nicht mehr existieren. Aber
auch in Zukunft bleibt das, was wir beim Spe-
zialisten KoTnpetenz nennen, unersetzlich.
Kompetenz gilt es nicht nur zu erhalten, son-
dern auch zu entfalten.

Der verengte Begriff von Gestaltung, getrennt
in die Bereiche Stadtbau, Architektur, Indu-
strial Design und Kommunikationsdesign und
untergliedert in eine Fülle separierter Spezial-
bereiche, wäre zu entgrenzen.

Die folgenreichsten Experimente der Vergan-
genheit, Gestaltung ressortübergreifend als In-

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