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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Weber, Olaf: Design und politische Vernunft
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0110
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laufen den Tendenzen der klassischen Indu-
strialisierung, den Serien und Sets, entgegen.
Um die beschriebene Flexibilität zu erreichen,
müssen die Verfahren zur Herstellung des ge-
genständlichen Milieus prinzipiell sämtliche
technologischen Niveaus einbeziehen - von
der einfachsten Handarbeit über serielle Pro-
duktion bis zu selbstregulierenden Produk-
tionssystemen. Das Zusammenspiel aller
Technikebenen im Rahmen eines technologi-
schen Pluralismus hat das Ziel, anpassungs-
fähige Figurationen zu schaffen, die kontext-
und subjektbezogen sind und zugleich die kul-
turelle Stabilität von Sprachmustern haben.
Das Ziel ist also nicht Gleichartigkeit, sondern
Ähnlichkeit. Solche Formen sind typologische
Figuren. Es sind langlebige Gestalten, in de-
nen massenhaft menschliche Erfahrungen ge-
ronnen sind und die zugleich offen sind für
technische Strömungen, ästhetische Wellen-
bewegungen, soziale und geographische Be-
sonderheiten und die Subjektivität handelnder
Individuen. Solche Typen sind effektive und
verständliche Gebilde. Sie sind die Elemente
der künftigen gegenständlichen Formenspra-
che und damit Voraussetzung sozialer Kultur.

Die typologische Festigkeit der Dinge wird
auch eine Folge der Verlangsamung der Pro-
zesse und der Prozeßveränderungen sein.
Das bedeutet jedoch keine Einschränkung
innovativen Denkens und wissenschaftlicher
Forschung. Nicht jeder Einfall muß eine
produktionstechnische Umsetzung erfahren,
auch wenn er sich vermarkten ließe. Jeder Ge-
danke muß vielfach gedacht werden, damit
möglichst alie Folgen seiner Umsetzung sicht-
bar werden. Ein demokratisches Design erfor-
dert die Öffnung der Ateliers, der Direktionen
und Produktionsstätten für alle Interessierte.
Planung und Industrie müssen transparent
werden wie die Parlamente - oder noch viel
durchsichtiger. Der Designer hat dabei künftig
eine wichtige Vermittlerfunktion auszufüllen.
Er organisiert den Dialog zwischen Fachleuten
und Bürgern und ist selbst aktiver Teilnehmer
an diesem Dialog.

Politische Vernunft zielt darauf, daß die Dinge
wieder Mittler zwischen den Menschen wer-
den; Produkte als Mittler im Austausch gesell-
schaftlicher und individueller Kulturen funktio-
nieren nur, wenn sie allgemein anerkannt und
semiotisch zuverlässig sind.

Nun komme ich nochmal auf das Thema der
Sittlichkeit zurück. Die Zuverlässigkeit der Mitt-
ler erfordert, daß ihnen von denen, die sie in
Anspruch nehmen, Vertrauen entgegenge-
bracht wird. Die Dinge müssen dieses Ver-
trauen auf Befragung durch die Nutzer immer
wieder neu gewinnen. Das ist zum Beispiel
das Problem der Imitation. Von Recyclingpro-
blemen abgesehen ist an ihr nicht problema-
tisch, daß sie den geschichteten Aufbau einer
Wand oder Platte vertritt und ebenso wenig,
daß dabei mindestens eine Materialschicht
verdeckt und eine andere nur bildhaft vorhan-
den ist. Problematisch ist an Imitation nur, daß
sie Vertrauen mißbraucht und auf Dauer
sprachliche Kodes zerstört.

Illusionistische Gestaltungen und Lust auf Ver-
kleidung sind von diesem Vorwurf nicht
berührt. Wir wollen keine asketischen Bezie-
hungen zu den Dingen, und kein neues
Dogma von der „Materialgerechtigkeit“ oder
anderen isolierten Wahrheiten. Wir wollen
aber, daß auch die über Gegenstände vermit-
telten Beziehungen des Einzelnen zur Zivilisa-
tion auf Vertrauen gegründet werden können.

Dazu ist ein ungetrübtes, ganzheitliches Ver-
hältnis zu den Dingen erforderlich, das die so-
zialen und ökologischen Aspekte des Designs
impliziert. Politik könnte Design humanisieren;
die Herstellung von Verhältnissen, in denen
sich die Dienstbarkeit der Dinge für selbstbe-
stimmte Menschen erweist, wäre der perspek-
tivische Inhalt politischer Vernunft im Design.

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