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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 33.1913-1914

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Michel, Wilhelm: Das Weltanschauliche der Neuen Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.7011#0053

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Das Weltanschauliche der neuen Malerei.

mit hundert sinnlosen Details behafteten Einzel-
form und der großen, furchtbaren göttlichen
Einheit entspringt. Komisch wirkt die Einzel-
form gegenüber dem „Gesetz". Komisch wirkt
auch der Nachweis des „Gesetzes" in der Ein-
zelform; kurz, in allen empfundenen Begeg-
nungen zwischen Gesetz und Formenzufällig-
keit, zwischen Chaos und Individuum liegt
Komik, potentiell oder aktuell. Dies ist so ge-
setzmäßig, daß sogar das Gegenteil zutrifft:
Aller Komik liegt eine empfundene Begegnung
von „Gesetz" und Individualisierung zugrunde.
Kein Zweifel, daß hier die Ursachen der
komischen Wirkungen liegen, die von vielen
Werken der neuen Malerei ausgehen. Die
ältere, bewußte Kunst der Groteske kommt zu
ihren komischen Wirkungen durch Übertreibung
der Individualisierung: Jeder Beschauer kontra-
stiert diese schroff individualisierte Form mit
seiner innerlichen Empfindung von Welteinheit
und schematischer Reinheit des „Gesetzes"
und erfährt zugleich mit der eintretenden
scharfen Spannung Belustigung, die sich frei-
lich immer mit zahlreichen anderen Gefühls-
elementen mischt. Die neue Malerei kommt

zu ihren oft unbeabsichtigten komischen Wir-
kungen durch Vereinfachung der Formen, durch
Nachweis des „Gesetzes" im Individuum: jeder
Beschauer kontrastiert diese schroffe Verein-
fachung mit seinem empirischen Wissen von
dem objektiven Formenreichtum des darge-
stellten Individuums, und die komische Wir-
kung stellt sich ein, wieder als Folge der Be-
gegnung zwischen „Gesetz" und Form. Als
Beispiel für den ersten Fall diene etwa ein be-
liebiges groteskes Blatt von Goya, als Beispiel
für den zweiten Fall eines der neueren Gemälde
von Henri Matisse.

Mehr als der Nachweis dieser kosmischen
Grundtendenz in der neuen Kunst war hier
nichts beabsichtigt. Es läge nahe, daran Be-
wertungen oderBemerkungen über voraussicht-
liche Weiterentwicklung zu knüpfen, doch soll
dies als zuweit führend diesmal nicht geschehen.
Den Anhängern wie den Gegnern der neuen
Bestrebungen, vor allem aber der Kunst ist
in diesen Zeiten des Kampfes, die notwendiger-
weise zugleich Zeiten der Unklarheit sind, durch
objektiv begründetes Benennen und Einreihen
der streitenden Kräfte am meisten gedient, w. m.

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