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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 46.1920

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Knappeis, Gustav: Von der Seele der Gotik
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https://doi.org/10.11588/diglit.7200#0138

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Von der Seele der Gotik.

ein eigenes Dasein
zu führen, als Kult-
bildern kam ihnen
zu neben dem episch
erzählenden Zweck,
den sie erfüllten, Be-
ziehungen zu schaf-
fen zwischen der
Glaubensquelle und
dem Andächtigen.
Wie in der Gotik
immer bewußter die
Blicke aus dem Jen-
seitigen zurückkeh-
ren , wie sie aus
unbegrenzter Ferne
erst nach innen ge-
wandt , allmählich
dem Betenden zu-
sprechen, winken u.
trösten, das muß
man erkennen, um
den Begriff der Ent-
wicklung oder des
Stilwandels aus gei-
stiger Steigerung zu
erfassen. — Die
Abbildungen, den
Schätzen des Liebig-
hauses in Frankfurt
a. M. entnommen,
versinnlichen, was
ich andeutete. Starr
und fern den Blick
thront die Madonna
des XIII. Jahrhun-
derts, sie selbst wie-
derThron des jungen
Sohnes, der in Hal-
tung und Tracht, ein
römischer Konsul,
seinen Segen spen-
det. Klage und Leid
weht uns von der
Pietä an; aber Maria
blickt nicht zu uns
aus ihrem Schmerz;
nur den Sohn sieht
sie, mit ihm verquel-
len alle inneren und
äußeren Linien. Die
späte Madonna mit
dem Kind lächelt
dem Andächtigen
zu. Minnig und hold
gleitet das Lächeln
über ihre Züge, das

HOLZPLASTIK »JOHANNES« STADT. MUSEUM- FRANKFURT M.
AUS DEM ANFANG DES XIV. JAHRH.

im Gefällt des Klei-
des und Mantels sein
gleiches Spiel zu
treiben scheint. —

Versunken betet
Maria der franzö-
sischen Gotik am
Kreuz ihres Sohnes,
ihr Schmerz aber
verbindet sie mit
allen Menschen; so
kehrt der Blick aus
dem Innern zurück
und sucht die Men-
schen. Auch an ihr
klagen und rinnen
die Falten der Ge-
wandung. Allein die
Linien fließen in
leichter Schwingung
nach vorn dem Be-
tenden zu. — Die

gleiche Wandlung
der Form unter sich
wandelnder geistiger
Einstellung beim Jo-
hannes. Die erste
Stufe fehlt, wo die
Ferne sich dem Blick
vermählt. Nur die
innere Versunken-
heit in die Tiefe des
Schmerzes trägt Jo-
hannes des 15. Jahr-
hunderts. Der Kopf
und der geraffte Zip-
fel des Mantels stei-
gen und sinken ge-
geneinander , zwei

Gegenbewegungen
finden Ruhe in der
geistigen Mitte. —
Die Farben beglei-
ten die stille Kla-
ge der geschnitzten
Form mit lautem
Weh. Grün schreit
in krampfendes Rot
hinein. Auch der Jo-
hannes der französi-
schen Kreuzesgrup-
pe trägt Schmerz j
auch hier führt Arm
und Kopf in Gegen-
bewegung zueinan-
der. Wie der Blick
jedoch den Beten-
 
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