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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 46.1920

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Michel, Wilhelm: Hunger nach Materie
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https://doi.org/10.11588/diglit.7200#0297

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Hunger nach Materie.

dem Künstler so nötig ist wie dem Weltschöpfer
der Stoff, stöhnt irgendwo in einem fernen Ver-
lies oder ragt nur schemenhaft ins Werk hinein.

Wer das graue, geistverlasseneElend der letz-
ten Impressionisten-Ausstellungen um 1908 9
erlebt hat, wird gewiß die Heftigkeit verstehen,
mit der sich der Geist im Expressionismus von
der Kette der Sinnlichkeit losriß. Er wird auch
verstehen, daß jede derartige Wendung das Ziel
weit überspringt und zunächst einmal in ihr
Gegenteil stürzt. Incidit in Scyllam, qui vult
vitare Charybdin. Aber alles Verständnis dieser
Art kann nicht hindern, zu sehen, was ist. Zu
sehen also, daß das Ziel überlaufen wurde,
daß nach der Naturversklavung die Tyrannei

des Geistes eingetreten ist, daß unter tausend
funkelnden Wie das Was in der Tiefe ver-
dämmert. Das ist beileibe kein Einwand gegen
die Notwendigkeit, mit der der Expressionismus
seinerzeit in die Welt sprang; wohl aber ein
Einwand gegen die Meinung, in ihm sei das
absolute Ziel der Kunst erreicht.

Ein wahrer Hunger nach Materie kann uns
befallen, sehen wir die neue Kunst auf jede
Auseinandersetzung mit dem Stoff verzichten,
sehen wir das Handwerk aus ihr schwinden,
sehen wir sie mit dem objektiven Weltstoff zu-
gleich Tradition, Faßlichkeit, Sinnenreiz und
Aktivität preisgeben. Die Meister tun dies frei-
lich nicht: Ein Kokoschka, ein Beckmann, ein

M. DE VLAM1NCK. »BLUMEN IM ATELIER« Sammlung o. sciulbr-bochum.
 
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