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12. Munch

namenlose Angst sich in furchtbarem Schrei entlädt. Und er ist in
der Liebe.
Die Liebe sieht Munch schicksalhaft. Ein Zwang preßt Mann
und Weib in wilde Umarmung. Sie sind sich ewig fern und streben
immer zueinander (ein ganz Strindbergsches Motiv). Das Weib ist
Lilith, die große Verführerin, die selbst das Opfer ihrer Verführung
wird. Sie lockt und spielt mit Liebe, Qual und Tod. Sie ist der
Vampir, der den Mann zerfleischt. Schaudernd blickt das Mädchen,
das sein Weibtum fühlt, in das Dunkel seiner Zukunft; herausfor-
dernd bietet das Weib seinen prangenden Leib an; grauenvolle
Zerstörung ist das Los seines Alters.
Als Munch in Berlin seine alten Bildmotive neu bearbeitete,
reinigte er sie von allem naturalistischen und genrehaften Beiwerke
und von jeder Zufälligkeitsgebärde. Nur der seelische Vorgang hat
das Wort. Das „kranke Mädchen“, kaum noch dem Leben zugehörig,
schaut mit fernem Blicke in das große Licht, der Schmerz der Mutter
wird allein durch ihre gebrochene Haltung charakterisiert. Die
Menschen werden zu Typen, der Raum wird entindividualisiert.
Nicht Szenen werden geschildert, sondern das allgemeine Menschen-
schicksal. Das Visuelle wird ins Visionäre umgesetzt. Der Schatten,
den das erwachende Mädchen an die Wand wirft, wird zu einem
sie belauernden Gespenste; riesengroß in grellem Lichte taucht der
qualdurchwühlte Kopf des Eifersüchtigen aus Finsternissen am
vorderen Bildrande auf.
Zugleich geht Munch dazu über, alle Bildelemente unabhängig
von ihrer Wirklichkeitsform zu Trägern des Bildgedankens umzu-
stilisieren. Die Farbe wird symbolisch. Das wilde Rot wird im
Haare des kranken Mädchens zum Symbole des brennenden Lebens-
durstes, an dem fahlen Kopfe des Eifersüchtigen zum Symbole
höllischer Qual. In der schweigenden Sommernacht stimmt die
Natur mit märchenhaften Farben wie mit Geisterklängen ihre
mächtige Orgelfuge an. Die Form wird im Interesse des Ausdrucks
rücksichtslos denaturiert. Das schreiende Mädchen ist nicht mehr
Körper — es ist eine einzige Gebärde qualvollen Schreiens. Was
von der Wirklichkeitsform sich nicht in Ausdruck umsetzen läßt,
wird vernachlässigt oder gar ausgemerzt. Licht und Dunkelheit
 
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