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Engelberg, Meinrad von
Renovatio Ecclesiae: die "Barockisierung" mittelalterlicher Kirchen — Petersberg: Imhof, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.62514#0416
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IV. Grundfragen der Renovatio

bunden sind, findet ihre Entsprechung in
der kaum je hinterfragten Identifikation
der Kölner mit ihren „1000 Jahre alten ro-
manischen Kirchen", die ebenfalls mehr-
heitlich Neubauten der Nachkriegszeit
sind und dabei oft deutlicher vom Vorzu-
stand abweichen als die Münchner Pe-
terskirche.
344 Schnell Nr. 604, S. 12.
345 Zunächst war nicht an eine exakte Imi-
tation der Fresken gedacht, so daß der
Chor 1953 ein „stimmungsvolles Wolken-
gebilde" durch Richard Kunze erhielt.
Schnell Nr. 604a, S. 7 (ohne Abb.), der
heutige Zustand in Schnell Nr. 604, Abb.
S. 9.
346 Abb. Schnell Nr. 604, Rückenumschlag;
Esterer 1954, S. 337.
347 Schnell Nr. 604, S. 4.
348 Altmann / Kindelbacher 1995, S. 51.
349 Altmann / Kindelbacher 1995, S. 55.

stätigt345. Im Langhaus war eine Wieder-
herstellung des großen Bildfeldes im Rah-
men des Wiederaufbaus zunächst gar nicht
geplant, wie die 1951 dort angebrachten
bescheidenen Stuckrahmen belegen346
<276>. Diese sind nämlich jeweils nur auf
ein Joch bezogen und rekurrieren somit auf
einen hypothetischen Zustand vor 1753.
Das Ergebnis der „Rekonstruktion“ des Jah-
res 2000 beweist vor allem, daß die künst-
lerische Leistung eines Originalgenies wie
Zimmermann nicht wirklich rekonstruier-
bar ist: Es handelt sich unverkennbar um
ein Gemälde Peikers nach dem Motiv der
Ausmalung Zimmermanns und belegt - ve-
nia verbo - den Verfall dieser Kunst, wenn
sie nur noch als pseudomuseales Artefakt
gepflegt wird
Der zweite entscheidende Auslöser für die-
se „ganz im Gegensatz zur damals herr-
schenden Meinung“347 stehende Lösung war
eine Einstellung zum barockisierten Kir-
chenraum selbst, die sich signifikant von
derjenigen der Bauherren und Planer in
Würzburg und Augsburg unterschied: Man
empfand und empfindet St. Peter in Mün-
chen als Barockkirche sui generis. Obwohl
im Westteil des Mittelschiffs nach dem
Krieg ein gotischer, mit barockem Stuck
ummantelter Pfeiler versuchsweise freige-
legt wurde, hielt man es zu keiner Zeit für
angemessen oder wünschenswert, diesen
Urzustand wieder herzustellen, die barok-
ke Renovatio ungeschehen zu machen. Die
Gleichung barock = münchnerisch = ka-
tholisch = erhaltungswürdig stieß auf so
allgemeine Zustimmung, daß jede andere
Entscheidung als Sakrileg erschienen wäre.
Die barocke Umgestaltung ist somit zum
definitiven, endgültigen Zustand des „Alten
Peter“ geworden, die auch eine weitgehen-
de Zerstörung nicht in ihrem Existenzrecht
relativiert.
Wie stark die Identifikation der Bauherren
mit der von ihnen wiedergewonnenen
Ästhetik war, beweist das Epitaph des oben
erwähnten Stadtpfarrers Max Zistl („Der

Motor des Wiederaufbaus“348, +19 8 3) im
südlichen Seitenschiff: Es ist in reinsten Ro-
kokoformen und völliger Angleichung an
das von Ignaz Günther geschaffene Grab-
mal des 1759 verstorbenen „Barockisie-
rungs“-Dekans Unertl ausgeführt, läßt Pfar-
rer Zistl aber dennoch im Porträtrelief
durch seine Brille eindeutig als Menschen
des 20. Jahrhundert erkennen. Hugo
Schnells 1957 im Streit um Würzburg ge-
äußertes Stoßgebet, der Neobarock möge
doch nun auch in Bayern zu Ende gehen,
hat sich zumindest am „Alten Peter“ im
vergangenen Jahrhundert nicht mehr er-
füllen.
Der Petersarchivar Kindelbacher349 erkennt
im Wiederaufbau von St. Peter die ent-
scheidende Pioniertat für zahlreiche späte-
re Rekonstruktionen verlorener Raumaus-
stattungen wie derjenigen der Residenz, des
Hochaltars von St. Michael oder auch der
Kölner Jesuitenkirche. Architekt Schleich,
einer der Promotoren dieser Entscheidung,
drang 1955 mit seinem Vorschlag zum imi-
tatorischen Wiederaufbau des Goldenen
Saals im Augsburger Rathaus noch nicht
durch - die Rekonstruktion erfolgte erst
1985: ein Beleg für verschiedene Prinzipien,
verschiedene „Modi“ im Umgang mit der-
selben Aufgabenstellung und die Verände-
rung einer Mehrheitsmeinung im Lauf der
Jahrzehnte.
Wie dieser Überblick gezeigt hat, ist das
Modell „Modi der Renovatio“ auch auf das
20. Jahrhundert anwendbar. Zur gleichen
Zeit und unter vergleichbaren Bedingun-
gen konnte der Wille des Bauherrn und die
Fähigkeit der beteiligten Künstler, diesen
umzusetzen, zu diametral entgegengesetz-
ten Ergebnissen führen, die zugleich Spie-
gel jener Einstellung sind, welche die Ver-
antwortlichen dem Phänomen „Barocki-
sierung“ grundsätzlich entgegenbrachten.
Von völliger Tilgung bis zur kompletten
Rekonstruktion sind auf engstem Raum
alle Varianten gedacht und realisiert wor-
den.

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