IV. Grundfragen der Renovatio
358 Dohme 1887, Vorwort: „Die vorliegende Ar-
beit [...] will, um einen Ausdruck aus der Ter-
minologie des Naturforschers zu gebrauchen,
die Entwicklungsgeschichte der deutschen
Baukunst bieten."
359 Sauerländer 1999, S. 214f; Grundlegend
waren Wölfflin 1888 und 1915. Wölfflin er-
kennt in der Stilentwicklung einen in sich lo-
gischen, sozusagen naturgesetzlichen Ablauf
von einem Formideal zu einem anderen, z.B.
vom „Linearen zum Malerischen".
360 Riegl 1931 /1997, S. 242: „Rembrandt ist der
genialste Exekutor des Kunstwollens seines
Landes." Riegl 1927, S. 19:„Architekturund
Kunstgewerbe offenbaren die leitenden Ge-
setze des Kunstwollens oftmals in mathe-
matischer Reinheit."
361 Wölfflin 1915 / 1991, S. 5: „Die Art des Se-
hens [...] hat, wie alles Lebendige, ihre Ent-
wicklung. [...] Anstatt zu fragen: „Wie wirken
diese Kunstwerke auf mich (den modernen
Menschen)?"[...] muß der Historiker sich ver-
gegenwärtigen, welche Auswahl von Form-
möglichkeiten die Zeit überhaupt hatte. [...]
Das vorliegende Buch versucht lediglich
Maßstäbe aufzustellen, an denen man die
geschichtlichen Wandlungen (und die na-
tionalen Typen) genauer bestimmen kann."
362 Wölfflin 1915 /1991, S. 26: „Der Barock ist
weder ein Niedergang noch eine Höherfüh-
rung des Klassischen, sondern ist eine gene-
rell andere Kunst."
363 Wölfflin 1915 / 1991, S. 31 postuliert, daß
„[...] diese [stilistischen] Begriffe in ihrer
Wandlung eine innere Notwendigkeiten sich
haben. Sie stellen einen rationellen psycho-
logischen Prozeß dar. Der Fortgang [...] hat ei-
ne natürliche Logik und könnte nicht umge-
kehrt werden. [...] Der Stein, der den Berg-
hang hinabrollt, kann im Fallen ganz ver-
schiedene Bewegungen annehmen [...] aber
alle diese Möglichkeiten unterstehen einem
und demselben Fallgesetz."
364 Wölfflin 1915/1991,S.20:„Hebendenper-
sönlichen Stil tritt der Stil der Schule, des
Landes, der Rasse. "Vergl. die kritische Zu-
sammenfassung solcher Thesen der deut-
schen Forschung im postum erschienenen
Buch des exilierten Paul Frankl: Frankl 1988,
S. 128-148.
365 Besonders problematisch im Spätwerk Wil-
helm Pinders, der seinem Übersichtswerk
zur Deutschen Kunst des Mittelalters
(1935-1951) den Titel gab: „Vom Wesen
und Werden deutscher Formen".\n „Das Pro-
blem der Generationen in der Kunstge-
schichte Europas"(']S26) werden individuel-
le Stilunterschiede an Geburtsjahr und Le-
bensalter festgemacht, um die „Subjektive
Perspektive der Stilgeschichte" durch eine
vorgeblich „objektive Biologie wirklicher Le-
bewesen" zu ersetzen. Siehe z.B. ebd. S. 43:
„Giorgione hat das Blut der Michelangelo-
Generation in sich."
366 Suckale 1993, S. 50: „Alles beherrschend
waren (und sind) die Vorstellungen von den
Zeitabläufen, im Mittelpunkt die Idee der
„Entwicklung". Künstler und alle Menschen
um sie herum scheinen und schienen gleich-
sam unter einem Zeitdiktat zu stehen. "Kim-
pel / Suckale 1995, S. 62: „UnserZiel ist es,
einen Stilbegriff als falsch zu erweisen, der
den Stil als anonyme Übermacht ansieht, die
Künstler aber nur als Erfüllungsgehilfen."
367 Vergl. als Beispiel Appuhn-Radtke 2000, ei-
ne Monographie zum Oeuvre des Barock-
malers Johann Christoph Storer (1620-
1 b) „Entwicklung"?
Noch problematischer als „Stil“ erscheint
der zweite Wortbestandteil, nämlich „Ent-
wicklung“. Dieser Begriff ist der neueren
Forschung suspekt; er entstammt eher ei-
nem Denkmodell vom Ende des vorletzten
Jahrhunderts, der Zeit Dohmes358, Wölfflins
und Riegls, als den heute bevorzugten kon-
text- und funktionsorientierten Deutungs-
modellen.
Die Kombination beider Begriffe steht unter
dem Verdacht des Biologismus, einer vorge-
blichen Naturnotwendigkeit und Determi-
niertheit künstlerischer Formfmdung359.
Um 1900 diente die Theorie eines vom
Künstlerindividuum abzulösenden, überper-
sönlichen „Kunstwollens der Epoche“360, ei-
nes sich selbsttätig fortentwickelnden Zeit-
stils, zwei durchaus fortschrittlichen Zielen:
der Erlangung einer größeren methodischen
Autonomonie für die junge Disziplin der
Kunstgeschichte und der Überwindung nor-
mativer ästhetischer Vorurteile361. Gerade
der Barockstil verdankt dieser neuen Sicht
viel von seiner allgemeinen .Akzeptanz und
seinem spezifischen Verständnis362. Die The-
orie einer „gesetzmäßigen Entwicklung“ der
Stile363 führt allerdings in eine gefährliche
Nähe zu darwinistisch-evolutionsbiologi-
schen und national-rassistischen Denkmo-
dellen364, und damit zu einer Politisierung
und Ideologisierung dieser Idee365, die zu-
mindest in Deutschland nach 1945 den Be-
griff mit dem Verdikt eines belasteten und
zu überwindenden Denkmodells belegte366.
An dessen Stelle trat ein gesteigertes Inter-
esse für die Funktions-, Bedeutungs- und
Strukturanalyse der jeweils individuell be-
trachteten Objekte. Das Wesen eines Kunst-
werks sollte sich vor allem mit Hilfe der ge-
nauen Untersuchung seines historischen
und soziokulturellen Kontextes erschließen.
Diesem Ansatz fühlt sich auch diese Arbeit
verpflichtet.
Mit der Frage nach dem Kontext reagierte
die Kunstgeschichte, wohl ohne sich dessen
bewußt zu sein, auf das heraufdämmernde
Informationszeitalter, indem man nun vor
allem den „Mediencharakter“ von Kunst-
werken betrachtete, nämlich ihre Rolle als
Vermittler von Ideen, Inhalten und ästhe-
tisch-programmatischen Konzeptionen. Das
Interesse richtete sich verstärkt auf den
Auftraggeber und den Rezipienten, Künst-
ler und Werk mutierten hierbei zu Kataly-
satoren einer Interaktion von Sender und
Empfänger367. Die Kunst verlor hierdurch
zwar jene Autonomie, die ihr das 19. Jahr-
hundert als besondere Qualität zugewiesen
hatte, gewann aber ihren „Sitz im Leben“
zurück. Das Interesse der Forschung wand-
te sich von der Person des Künstlers und
dem einzelnen Kunstwerk als Exponent ei-
ner scheinbar unaufhaltsamen Entwicklung
immer mehr auf die Fragen des „Warum“
und „Für wen“ der Kunstproduktion. Die
Idee vom Stil als einer Übermacht, die In-
dividuum und Werk einem nicht beein-
flußbaren Automatismus unterwirft, hatte
ausgedient. Der Stil wandelte sich von ei-
ner Naturgewalt zum Produkt klar benenn-
barer Absichten realer, bewußt und zielge-
richtet handelnder Akteure.
Mit dem Aufstieg der postmodernen Wis-
senschaftstheorie zum Jahrhundertende er-
schien auch die in ihrem Kern Hegeliani-
sche These vom „Fortschritt der Stile“ als
eine jener obsolet oder zumindest fraglich
gewordenen „Großen (Meta-) Erzählungen“
der Aufklärungszeitalters368. Das Kunstwerk
wird nun oft, um die Terminologie des der-
zeit verbreiteten Poststrukturalismus auf-
zugreifen, als „Text“ verstanden, der ver-
schiedene, aber tendenziell gleichberech-
tigte Lesarten zuläßt, welche nur noch als
„Diskurse“, als Konstrukte jener Wissen-
schaftler gelten können, die sie beim
Schreiben erst erschaffen: „Stilgeschichte“
wäre demnach nicht die wissenschaftliche
Beschreibung einer präexistenten Realität,
sondern lediglich eine mögliche „Erzäh-
lung“ über Kunst, die gleichwertig (also
beliebig?) neben den „Narratives“ „Auf-
traggebergeschichte“ oder „Ikononologie“
stehen kann. Die Frage, welche dieser Mo-
delle „richtig“, also hermeneutisch adäquat
sei, wird als ein Konstrukt des angeblich
überwundenen, „modernen“ Denkens zu-
rückgewiesen369.
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358 Dohme 1887, Vorwort: „Die vorliegende Ar-
beit [...] will, um einen Ausdruck aus der Ter-
minologie des Naturforschers zu gebrauchen,
die Entwicklungsgeschichte der deutschen
Baukunst bieten."
359 Sauerländer 1999, S. 214f; Grundlegend
waren Wölfflin 1888 und 1915. Wölfflin er-
kennt in der Stilentwicklung einen in sich lo-
gischen, sozusagen naturgesetzlichen Ablauf
von einem Formideal zu einem anderen, z.B.
vom „Linearen zum Malerischen".
360 Riegl 1931 /1997, S. 242: „Rembrandt ist der
genialste Exekutor des Kunstwollens seines
Landes." Riegl 1927, S. 19:„Architekturund
Kunstgewerbe offenbaren die leitenden Ge-
setze des Kunstwollens oftmals in mathe-
matischer Reinheit."
361 Wölfflin 1915 / 1991, S. 5: „Die Art des Se-
hens [...] hat, wie alles Lebendige, ihre Ent-
wicklung. [...] Anstatt zu fragen: „Wie wirken
diese Kunstwerke auf mich (den modernen
Menschen)?"[...] muß der Historiker sich ver-
gegenwärtigen, welche Auswahl von Form-
möglichkeiten die Zeit überhaupt hatte. [...]
Das vorliegende Buch versucht lediglich
Maßstäbe aufzustellen, an denen man die
geschichtlichen Wandlungen (und die na-
tionalen Typen) genauer bestimmen kann."
362 Wölfflin 1915 /1991, S. 26: „Der Barock ist
weder ein Niedergang noch eine Höherfüh-
rung des Klassischen, sondern ist eine gene-
rell andere Kunst."
363 Wölfflin 1915 / 1991, S. 31 postuliert, daß
„[...] diese [stilistischen] Begriffe in ihrer
Wandlung eine innere Notwendigkeiten sich
haben. Sie stellen einen rationellen psycho-
logischen Prozeß dar. Der Fortgang [...] hat ei-
ne natürliche Logik und könnte nicht umge-
kehrt werden. [...] Der Stein, der den Berg-
hang hinabrollt, kann im Fallen ganz ver-
schiedene Bewegungen annehmen [...] aber
alle diese Möglichkeiten unterstehen einem
und demselben Fallgesetz."
364 Wölfflin 1915/1991,S.20:„Hebendenper-
sönlichen Stil tritt der Stil der Schule, des
Landes, der Rasse. "Vergl. die kritische Zu-
sammenfassung solcher Thesen der deut-
schen Forschung im postum erschienenen
Buch des exilierten Paul Frankl: Frankl 1988,
S. 128-148.
365 Besonders problematisch im Spätwerk Wil-
helm Pinders, der seinem Übersichtswerk
zur Deutschen Kunst des Mittelalters
(1935-1951) den Titel gab: „Vom Wesen
und Werden deutscher Formen".\n „Das Pro-
blem der Generationen in der Kunstge-
schichte Europas"(']S26) werden individuel-
le Stilunterschiede an Geburtsjahr und Le-
bensalter festgemacht, um die „Subjektive
Perspektive der Stilgeschichte" durch eine
vorgeblich „objektive Biologie wirklicher Le-
bewesen" zu ersetzen. Siehe z.B. ebd. S. 43:
„Giorgione hat das Blut der Michelangelo-
Generation in sich."
366 Suckale 1993, S. 50: „Alles beherrschend
waren (und sind) die Vorstellungen von den
Zeitabläufen, im Mittelpunkt die Idee der
„Entwicklung". Künstler und alle Menschen
um sie herum scheinen und schienen gleich-
sam unter einem Zeitdiktat zu stehen. "Kim-
pel / Suckale 1995, S. 62: „UnserZiel ist es,
einen Stilbegriff als falsch zu erweisen, der
den Stil als anonyme Übermacht ansieht, die
Künstler aber nur als Erfüllungsgehilfen."
367 Vergl. als Beispiel Appuhn-Radtke 2000, ei-
ne Monographie zum Oeuvre des Barock-
malers Johann Christoph Storer (1620-
1 b) „Entwicklung"?
Noch problematischer als „Stil“ erscheint
der zweite Wortbestandteil, nämlich „Ent-
wicklung“. Dieser Begriff ist der neueren
Forschung suspekt; er entstammt eher ei-
nem Denkmodell vom Ende des vorletzten
Jahrhunderts, der Zeit Dohmes358, Wölfflins
und Riegls, als den heute bevorzugten kon-
text- und funktionsorientierten Deutungs-
modellen.
Die Kombination beider Begriffe steht unter
dem Verdacht des Biologismus, einer vorge-
blichen Naturnotwendigkeit und Determi-
niertheit künstlerischer Formfmdung359.
Um 1900 diente die Theorie eines vom
Künstlerindividuum abzulösenden, überper-
sönlichen „Kunstwollens der Epoche“360, ei-
nes sich selbsttätig fortentwickelnden Zeit-
stils, zwei durchaus fortschrittlichen Zielen:
der Erlangung einer größeren methodischen
Autonomonie für die junge Disziplin der
Kunstgeschichte und der Überwindung nor-
mativer ästhetischer Vorurteile361. Gerade
der Barockstil verdankt dieser neuen Sicht
viel von seiner allgemeinen .Akzeptanz und
seinem spezifischen Verständnis362. Die The-
orie einer „gesetzmäßigen Entwicklung“ der
Stile363 führt allerdings in eine gefährliche
Nähe zu darwinistisch-evolutionsbiologi-
schen und national-rassistischen Denkmo-
dellen364, und damit zu einer Politisierung
und Ideologisierung dieser Idee365, die zu-
mindest in Deutschland nach 1945 den Be-
griff mit dem Verdikt eines belasteten und
zu überwindenden Denkmodells belegte366.
An dessen Stelle trat ein gesteigertes Inter-
esse für die Funktions-, Bedeutungs- und
Strukturanalyse der jeweils individuell be-
trachteten Objekte. Das Wesen eines Kunst-
werks sollte sich vor allem mit Hilfe der ge-
nauen Untersuchung seines historischen
und soziokulturellen Kontextes erschließen.
Diesem Ansatz fühlt sich auch diese Arbeit
verpflichtet.
Mit der Frage nach dem Kontext reagierte
die Kunstgeschichte, wohl ohne sich dessen
bewußt zu sein, auf das heraufdämmernde
Informationszeitalter, indem man nun vor
allem den „Mediencharakter“ von Kunst-
werken betrachtete, nämlich ihre Rolle als
Vermittler von Ideen, Inhalten und ästhe-
tisch-programmatischen Konzeptionen. Das
Interesse richtete sich verstärkt auf den
Auftraggeber und den Rezipienten, Künst-
ler und Werk mutierten hierbei zu Kataly-
satoren einer Interaktion von Sender und
Empfänger367. Die Kunst verlor hierdurch
zwar jene Autonomie, die ihr das 19. Jahr-
hundert als besondere Qualität zugewiesen
hatte, gewann aber ihren „Sitz im Leben“
zurück. Das Interesse der Forschung wand-
te sich von der Person des Künstlers und
dem einzelnen Kunstwerk als Exponent ei-
ner scheinbar unaufhaltsamen Entwicklung
immer mehr auf die Fragen des „Warum“
und „Für wen“ der Kunstproduktion. Die
Idee vom Stil als einer Übermacht, die In-
dividuum und Werk einem nicht beein-
flußbaren Automatismus unterwirft, hatte
ausgedient. Der Stil wandelte sich von ei-
ner Naturgewalt zum Produkt klar benenn-
barer Absichten realer, bewußt und zielge-
richtet handelnder Akteure.
Mit dem Aufstieg der postmodernen Wis-
senschaftstheorie zum Jahrhundertende er-
schien auch die in ihrem Kern Hegeliani-
sche These vom „Fortschritt der Stile“ als
eine jener obsolet oder zumindest fraglich
gewordenen „Großen (Meta-) Erzählungen“
der Aufklärungszeitalters368. Das Kunstwerk
wird nun oft, um die Terminologie des der-
zeit verbreiteten Poststrukturalismus auf-
zugreifen, als „Text“ verstanden, der ver-
schiedene, aber tendenziell gleichberech-
tigte Lesarten zuläßt, welche nur noch als
„Diskurse“, als Konstrukte jener Wissen-
schaftler gelten können, die sie beim
Schreiben erst erschaffen: „Stilgeschichte“
wäre demnach nicht die wissenschaftliche
Beschreibung einer präexistenten Realität,
sondern lediglich eine mögliche „Erzäh-
lung“ über Kunst, die gleichwertig (also
beliebig?) neben den „Narratives“ „Auf-
traggebergeschichte“ oder „Ikononologie“
stehen kann. Die Frage, welche dieser Mo-
delle „richtig“, also hermeneutisch adäquat
sei, wird als ein Konstrukt des angeblich
überwundenen, „modernen“ Denkens zu-
rückgewiesen369.
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