Orpheus. ■ 531
Man könnte nun vermuten wollen, daß die Vasen, welche Orpheus unter
den Thrakern darstellen, alle auf ein polygnotisches Original zurückgingen, und
daß die genaue Kenntnis des thrakischen Kostümes, welche sie zeigen, eben dem
Thasier als dem Nachbarn der Thraker zu verdanken sei. Das hält aber nicht
Stich. Um Thrakerkostüm kennen zu lernen, brauchten die Athener jener Zeit
den Polygnot wahrlich nicht, ebensowenig wie um Kenntnis von den ionischen
Buchstaben zu erhalten.1 Überdies scheint aber die Thrakertracht schon kurz vor
der Ankunft des Polygnot in Athen gemalt worden zu sein, und die Bilder der
Thraker bei Orpheus, obwohl sie im wesentlichen der polygnotischen Zeit an- 163
gehören und in dieser beliebte Motive zeigen,2 variieren doch so, daß sie sich
nicht auf ein bestimmtes Original zurückführen lassen.
Indeß eine gemeinsame literarische Quelle muß den Orpheusbildern jener
Periode allerdings zu Grunde liegen. Wie wir bereits bemerkten, tritt sowohl die
Darstellung der Tötung des Orpheus durch die rasenden Weiber als die seines
friedlichen Leierspieles unter den zuhörenden Thrakern zuerst im strengschönen
Übergangsstile der Zeit gegen 470 auf und hält sich während des älteren schönen
Stiles, um dann zu verschwinden; die Darstellung des Todes ist mehr in der ersten
Hälfte dieser Periode, die des Leierspiels mehr in der zweiten beliebt. Ich ver-
mute, daß zu diesen Bildern jene Tragödie des Äschylos3 die Anregung gab,
in welcher Orpheus Schicksal der Stoff war und die nach dem Chore Bassarides
hieß, das zweite Stück der in Thrakien spielenden Tetralogie Lykurgeia, auf
welche wir bereits hinzuweisen Gelegenheit hatten. Wir haben auch oben schon
auf jenen den Vasen wie Polygnot gemeinsamen typischen Zug aufmerksam ge-
macht, daß der singende Orpheus immer auf einem Berge sitzend erscheint. So
hatte ihn aber Äschylos auf die Bühne gebracht, in der Morgenfrühe auf dem
Pangaiongebirge sitzend, den Aufgang der Sonne erwartend. Einige der Vasen
ferner bringen das Leierspiel des Orpheus unter den Thrakern in unmittelbare
hatte. Ich hatte gleich darauf bei einer Reise nach Athen die Genugtuung, dort durch
die Ausgrabungen bestätigt zu sehen, was ich damals geschrieben. Wenig später, doch
unabhängig davon, veröffentlichte Dümmler seine eingehende Studie über Polygnot und
die Vasen (Jahrb. d. Inst. II, S. 168 ff. [Kleine Schriften III S.320]), deren Grundanschauungen
sich seitdem nur bestätigt haben.
1 Der von Dümmler a. a. O. versuchte Nachweis eines durch Polygnot vermittelten
Einflusses thasischer Schreibweise auf die Vasen scheint mir wenig geglückt. Polygnot
wird übrigens wohl, wie auch andere fremde Künstler es taten, sich in Athen beflissen
haben, attisch zu schreiben und nicht seine thasische Orthographie den athenischen Vasen-
malern zu oktroyieren, deflen ionische Schreibweise aus hundert andern Quellen zu-
strömen mochte.
2 Bei dem Krater Mus. Borb. 9, 12 erinnert man sich des das Knie umfassenden
Hektor und des vorgelehnten Agamemnon der Nekyia. Doch ist zu bedenken, daß beide
Motive schon der vorpolygnotischen Malerei angehören und auf Vasen der Zeit gegen
480 erscheinen.
s Nauck, Frag. trag. S. 7. Robert, Eratosth. catast. S. 140.
34*
Man könnte nun vermuten wollen, daß die Vasen, welche Orpheus unter
den Thrakern darstellen, alle auf ein polygnotisches Original zurückgingen, und
daß die genaue Kenntnis des thrakischen Kostümes, welche sie zeigen, eben dem
Thasier als dem Nachbarn der Thraker zu verdanken sei. Das hält aber nicht
Stich. Um Thrakerkostüm kennen zu lernen, brauchten die Athener jener Zeit
den Polygnot wahrlich nicht, ebensowenig wie um Kenntnis von den ionischen
Buchstaben zu erhalten.1 Überdies scheint aber die Thrakertracht schon kurz vor
der Ankunft des Polygnot in Athen gemalt worden zu sein, und die Bilder der
Thraker bei Orpheus, obwohl sie im wesentlichen der polygnotischen Zeit an- 163
gehören und in dieser beliebte Motive zeigen,2 variieren doch so, daß sie sich
nicht auf ein bestimmtes Original zurückführen lassen.
Indeß eine gemeinsame literarische Quelle muß den Orpheusbildern jener
Periode allerdings zu Grunde liegen. Wie wir bereits bemerkten, tritt sowohl die
Darstellung der Tötung des Orpheus durch die rasenden Weiber als die seines
friedlichen Leierspieles unter den zuhörenden Thrakern zuerst im strengschönen
Übergangsstile der Zeit gegen 470 auf und hält sich während des älteren schönen
Stiles, um dann zu verschwinden; die Darstellung des Todes ist mehr in der ersten
Hälfte dieser Periode, die des Leierspiels mehr in der zweiten beliebt. Ich ver-
mute, daß zu diesen Bildern jene Tragödie des Äschylos3 die Anregung gab,
in welcher Orpheus Schicksal der Stoff war und die nach dem Chore Bassarides
hieß, das zweite Stück der in Thrakien spielenden Tetralogie Lykurgeia, auf
welche wir bereits hinzuweisen Gelegenheit hatten. Wir haben auch oben schon
auf jenen den Vasen wie Polygnot gemeinsamen typischen Zug aufmerksam ge-
macht, daß der singende Orpheus immer auf einem Berge sitzend erscheint. So
hatte ihn aber Äschylos auf die Bühne gebracht, in der Morgenfrühe auf dem
Pangaiongebirge sitzend, den Aufgang der Sonne erwartend. Einige der Vasen
ferner bringen das Leierspiel des Orpheus unter den Thrakern in unmittelbare
hatte. Ich hatte gleich darauf bei einer Reise nach Athen die Genugtuung, dort durch
die Ausgrabungen bestätigt zu sehen, was ich damals geschrieben. Wenig später, doch
unabhängig davon, veröffentlichte Dümmler seine eingehende Studie über Polygnot und
die Vasen (Jahrb. d. Inst. II, S. 168 ff. [Kleine Schriften III S.320]), deren Grundanschauungen
sich seitdem nur bestätigt haben.
1 Der von Dümmler a. a. O. versuchte Nachweis eines durch Polygnot vermittelten
Einflusses thasischer Schreibweise auf die Vasen scheint mir wenig geglückt. Polygnot
wird übrigens wohl, wie auch andere fremde Künstler es taten, sich in Athen beflissen
haben, attisch zu schreiben und nicht seine thasische Orthographie den athenischen Vasen-
malern zu oktroyieren, deflen ionische Schreibweise aus hundert andern Quellen zu-
strömen mochte.
2 Bei dem Krater Mus. Borb. 9, 12 erinnert man sich des das Knie umfassenden
Hektor und des vorgelehnten Agamemnon der Nekyia. Doch ist zu bedenken, daß beide
Motive schon der vorpolygnotischen Malerei angehören und auf Vasen der Zeit gegen
480 erscheinen.
s Nauck, Frag. trag. S. 7. Robert, Eratosth. catast. S. 140.
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