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Göbel, Heinrich
Wandteppiche (III. Teil, Band 1): Die germanischen und slawischen Länder: Deutschland einschließlich Schweiz und Elsass (Mittelalter), Süddeutschland (16. bis 18. Jahrhundert) — Leipzig, 1933

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https://doi.org/10.11588/diglit.13167#0200
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Nordschweiz und Oberrhein (16.—17. Jahrhundert)

neben ihr (der als aufdringlicher Narr verkleidete Liebhaber) nie jemand als ihr Ge-
mahl, der mit einem Begleiter aufmerksam die hochnotpeinliche Prozedur verfolgt, sie ge-
küßt habe. Die Pupillen sind nach altem Brauch in die Winkel gerückt; die Zeichnung der
Gesichtszüge, von der niederländischen Technik beeinflußt, erinnert an die Knabenköpfe
der Basler Behänge des ausgehenden 15. Säkulums. Von der Spaltwirkung ist ausgiebiger
(auch in dem Brokatmuster), wenn auch nicht sonderlich geschickter Gebrauch gemacht.
Eine frühere, künstlerisch erheblich höher stehende Variante von 1549 eignet dem Stutt-
garter Schloßmuseum (Abb. 163b).

Den bäuerlichen vergröberten Stil verkörpert ein interessantes Stück, das aus der Samm-
lung Meyer-am-Bhyn in den Bestand der Wiener Sammlung Dr. Figdor überging27) und
gleichfalls 1930 zur Versteigerung gelangte (Abb. 164 a, H. 0,62 m, L. 0,70 m). Als Vorbild
dient ein von Urs Graf signiertes, um 1511 entstandenes Unikum im British Museum: Eine
Dirne nimmt aus dem Geldsack des alten Liebhabers (links) die Dukaten und steckt sie
ihrem jungen Galan (rechts) zu. Unterhalb des Holzschnittbildes weist ein Totenschädel
mit vielfach verschlängeltem Spruchband auf das Ende aller Dinge. Der Wirker gibt den
Holzschnitt als Spiegelbild, d. h. in Basselissetechnik, unter starken Vereinfachungen und
Vergröberungen wieder. Als Hintergrund dient nach Alt-Basler Brauch ein Blumenspalier.
In dem mehr als naiv erfaßten Himmel winden sich einige Wölkchen gleich Schlangen;
Schmetterlinge flattern; ein einsamer Stern strahlt. Das Spruchband mit der Jahreszahl 1565
kündet: „Alter man loss boltes spez (laß die kühnen Spässe — er greift nach dem Busen
des Weibes) A(in) Jong sitzet neer bym lez" (näher beim Miederlatz). Vor dem Tisch,
hinter dem das Dreiblatt steht, wächst der blumige Rasengrund, der in charakteristischer
Weise das bekannte, Flammenzungen ähnliche Gras neben grobe Blüten setzt. Die Remini-
szenzen an die Alt-Basler Wirkerei sind unverkennbar, nicht minder deutlich ist der
geradezu jammervolle Niedergang einer einst glänzenden, zugleich einfachen Technik.

Wertvoller ist schon ein aus der gleichen Zeitspanne stammender Behang der St. Gallener
Sammlung Ikle mit der Jahreszahl 1573 (Abb. 165): Die Madonna sitzt im Rosenhag, um
sich die spielenden Kinder der heiligen Sippe; wie üblich glossiert ein Spruchband den
Vorgang; in den vier Ecken erscheinen die Wappenschilder der Schaff hausener Familie
Keller von Schlattheim, des schwäbischen Geschlechtes Schäppel und des Schweizer Hauses
derYfTlingen von Graneck28). Die Verwandtschaft mit den Teppichen Basels ist weit weniger
stark ausgeprägt als in dem voraufgegangenen Stücke nach Urs Graf. Trotzdem ist an dem
oberrheinischen Ursprung kaum zu zweifeln — ob SchafThausen? —, schon die Formen
der Gesichter und die traditionellen Maiglöckchenstauden sprechen dafür.

In der Technik verwandt ist ein Kissenblatt der ehemaligen Sammlung Figdor29). Kaiser
Galba reitet in römischer Tracht auf einem roten Pferd, Erdbeerblüten, Veilchen, Schnee-
und Maiglöckchen bilden die gewohnte Flora.

c) Religiöse Behänge.
Die religiösen Wandteppiche der Nordschweiz und des Oberrheins teilen sich weit
schärfer als die profanen und allegorischen Stücke in ausgesprochen klösterlich und hand-
werksmäßig — auch im Hausfleiß — erzeugte Arbeiten. Den Brokatvorhang als Hinter-
grund verwendet ein 1514 datiertes „Urteil Salomos" (Abb. 166a, H. 0,95 m, L. 0,73 m) im
Kloster Gries bei Bozen; der Baseler Einfluß ist noch deutlich erkennbar. Zu der ersten
Gruppe gehört ein eigenartiger, aus acht Szenen (in zwei Reihen zu je vier Bildern) zu-
sammengestellter Passionsbehang (Abb. 167, H. 3'6", L. 7'6") im Besitze der New Yorker
Kunsthandlung P. W. French & Co. Die vier Einzelstücke (Episode 1—4), vordem bei
Arnold Seligmann et fils, Paris, dürften Teile des New Yorker Gesamtbehanges sein,
sofern es sich nicht lediglich um acht zusammengehörige Kissenblätter handelt. Als Vor-

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