Kr. 44.
HEIDELBERGER
1868.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Kirch mann: Aestlietik.
(Schluss.)
Die Entwicklung des Schönen ist ein Theil der allgemeinen
geschichtlichen Entwicklungen. Sie ist ohne die allgemeine Ge-
schichte nicht zu verstehen. Dem Gebiet des Natürlichen steht das
Gebiet des aus der Thätigkeit des Menschen Eiervorgegangenen
gegenüber. Hier ist nicht, wie in der Natur, ein Kreislauf, sondern
eine »vorwärtsgehende Bewegung.« Die Geschichte umfasst darum
das Gebiet 1) des menschlichen Wissens, 2) der Güter, 3) das
sittliche Gebiet (hier sind die Auctoritäten des Vaters, des Fürsten,
des Volkes die Quellen), 4) das Gebiet des Glaubens, 5) das »Han-
deln der Auctoritäten« oder die politische Geschichte, 6) das Ge-
biet des Schönen (S. 304 — 307). Dagegen, dass man das Wesen
der Geschichte in die Freiheit, die Humanität, die allge-
meine Liebe und Gleichheit, die vernünftige Liebe,
das sittliche Element gesetzt hat und noch setzt, wird S. 316
gesagt: »In alle diese Täuschungen geräth die Wissenschaft und
die öffentliche Meinung nur deshalb, weil man gewöhnt ist, das
Sittliche als ein Unbedingtes und in seinem Inhalte Unveränder-
liches, Ewiges und Heiliges anzusehen. Für den Einzelnen ist diese
Auffassung die natürliche und innerhalb seines beschränkten Daseins
die wahre, an der die Philosophie nie rütteln wird. Allein, wenn
solche Meinung sich über ihr Gebiet und ihre Zeit erhebt und das
für ihre Zeit Unbedingte als ein in Ewigkeit Unbedingtes hinstellt,
so ist die Philosophie genöthigt, dagegen aufzutreten, die wahren
Grundlagen des Sittlichen aufzudecken und zu zeigen, dass es nur
in dem Natürlichen, in der Macht und Lust, seine Wurzeln hat,
und dass der sittliche Inhalt eben so wechselt, wie aller geschicht-
liche Inhalt überhaupt.« Das »persönliche Moment« ist in der Ge-
schichte »der Zufall.« Sie ist kein ,,Belag“ (statt Beleg) für die
„sittlichen und Rechtsauffassungen der Gegenwart.“ Sie bleibt für
„alle Zeiten“ das „Fatum der Alten“, „dessen Unerforschlichkeit
weder mit religiösen noch mit sittlichen Ideen erschlossen werden
kann“ (S. 317). Auch in der Geschichte der Kunst wirkt nicht
ein Princip, sondern eine Mannigfaltigkeit von Kräften, nicht die
Nothwendigkeit oder Gesetzmässigkeit allein, sondern der durch die
Person bedingte „Zufall.“ Der Herr Verf. unterscheidet zwei Perio-
den in dieser Geschichte. Die erste Periode umfasst die ältesten
Zeiten der Völker, insbesondere den Orient und Aegypten, sodann
LXI. Jahrg. 9. Heft. 44
HEIDELBERGER
1868.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Kirch mann: Aestlietik.
(Schluss.)
Die Entwicklung des Schönen ist ein Theil der allgemeinen
geschichtlichen Entwicklungen. Sie ist ohne die allgemeine Ge-
schichte nicht zu verstehen. Dem Gebiet des Natürlichen steht das
Gebiet des aus der Thätigkeit des Menschen Eiervorgegangenen
gegenüber. Hier ist nicht, wie in der Natur, ein Kreislauf, sondern
eine »vorwärtsgehende Bewegung.« Die Geschichte umfasst darum
das Gebiet 1) des menschlichen Wissens, 2) der Güter, 3) das
sittliche Gebiet (hier sind die Auctoritäten des Vaters, des Fürsten,
des Volkes die Quellen), 4) das Gebiet des Glaubens, 5) das »Han-
deln der Auctoritäten« oder die politische Geschichte, 6) das Ge-
biet des Schönen (S. 304 — 307). Dagegen, dass man das Wesen
der Geschichte in die Freiheit, die Humanität, die allge-
meine Liebe und Gleichheit, die vernünftige Liebe,
das sittliche Element gesetzt hat und noch setzt, wird S. 316
gesagt: »In alle diese Täuschungen geräth die Wissenschaft und
die öffentliche Meinung nur deshalb, weil man gewöhnt ist, das
Sittliche als ein Unbedingtes und in seinem Inhalte Unveränder-
liches, Ewiges und Heiliges anzusehen. Für den Einzelnen ist diese
Auffassung die natürliche und innerhalb seines beschränkten Daseins
die wahre, an der die Philosophie nie rütteln wird. Allein, wenn
solche Meinung sich über ihr Gebiet und ihre Zeit erhebt und das
für ihre Zeit Unbedingte als ein in Ewigkeit Unbedingtes hinstellt,
so ist die Philosophie genöthigt, dagegen aufzutreten, die wahren
Grundlagen des Sittlichen aufzudecken und zu zeigen, dass es nur
in dem Natürlichen, in der Macht und Lust, seine Wurzeln hat,
und dass der sittliche Inhalt eben so wechselt, wie aller geschicht-
liche Inhalt überhaupt.« Das »persönliche Moment« ist in der Ge-
schichte »der Zufall.« Sie ist kein ,,Belag“ (statt Beleg) für die
„sittlichen und Rechtsauffassungen der Gegenwart.“ Sie bleibt für
„alle Zeiten“ das „Fatum der Alten“, „dessen Unerforschlichkeit
weder mit religiösen noch mit sittlichen Ideen erschlossen werden
kann“ (S. 317). Auch in der Geschichte der Kunst wirkt nicht
ein Princip, sondern eine Mannigfaltigkeit von Kräften, nicht die
Nothwendigkeit oder Gesetzmässigkeit allein, sondern der durch die
Person bedingte „Zufall.“ Der Herr Verf. unterscheidet zwei Perio-
den in dieser Geschichte. Die erste Periode umfasst die ältesten
Zeiten der Völker, insbesondere den Orient und Aegypten, sodann
LXI. Jahrg. 9. Heft. 44