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Historische Vierteljahrsschrift — 1.1898

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Nachrichten und Notizen
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https://doi.org/10.11588/diglit.58935#0486
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472

Nachrichten und Notizen.

deutschen Geschichtschreibung nicht häufig begegnen. Stieve konnte nicht
ruhen, bis ihm eine Menschennatur, mit deren Aeusserungen und Entschlüssen
er in seinen Studien zu thun bekam, völlig durchsichtig geworden war,
bis er das Problem einer Menschenseele, die ihn interessierte, gelöst hatte.
Dies innere Bedürfnis drängte ihn auch zu den Vorarbeiten für eine Bio-
graphie Wallensteins, der er in den letzten Jahren seines zu kurzen Lebens
eine ganz besondere Sorge gewidmet hat. Er liess es sich nicht verdriessen,
Unterricht in der tschechischen Sprache zu nehmen und die Uebersetzung
tschechischer Publikationen selbst kritisch zu überwachen, um die geheimsten
Falten im Seelenleben des Friedländers, dem er die „Grösse“ längst abge-
sprochen hatte, zu erschliessen. Leider ist wenig Hoffnung vorhanden,
dass auch nur ein Bruchstück seines „Wallenstein“, den er im Kopfe schon
so emsig ausgestaltet hatte, veröffentlicht werden wird, weil die einzelnen
Teile des Manuskriptes unverbunden geblieben sind. Dagegen wird es vielleicht
möglich sein, weitere Kreise mit dem Kulturhistoriker Stieve bekannt zu
machen, der seit zwölf Jahren Hunderte von jungen Männern an jene Lehr-
kanzel in der Technischen Hochschule zu München gefesselt und mit be-
geisterter Verehrung für ihn erfüllt hat. Die Lehrerfolge des Dahin-
geschiedenen, dem es nicht vergönnt war, auf einen akademischen Stuhl
berufen zu werden, weil er sich zum Altkatholizismus bekannte, waren
äusserst glückliche. Schon als Dozent an der Universität hat er eine
stattliche Reihe von tüchtigen Historikern heranzubilden verstanden, von
welchen mehrere ihre Kräfte als Hilfsarbeiter der Historischen Kommision
stählen durften, als Professor am Polytechnikum hat er eine zu Hunderten
angewachsene Zuhörerschaft gewonnen, die mit seltener Teilnahme und
Spannung an seinen Worten hing. Wer Stieve als Redner kennen gelernt
hat, wer die Festreden über Bismarck und Kaiser Wilhelm I. gehört oder
gelesen hat, wird dies begreiflich finden. Zu einer durchaus vollkommenen
Beherrschung der Sprache, die er künstlerisch zu verwerten verstand, trat
Klarheit, Gedankentiefe und jene unverfälschte Stimme des Gemütes, die
immer wirken muss, wo sie Wiederhall findet. Das Gemüt aber war in
dem reckenhaften Westphalen, der so strenge urteilen und seinen Nacken
so steif tragen konnte, wenn so manche akademische Hoheit ihn gehorsamst
zu krümmen geneigt war, weich wie das eines Kindes. Darum haben sie
ihn auch geliebt, die grossen und kleinen Kinder, die ihr Herz noch nicht
dem Verstände unterzuordnen gelernt haben, oder es aufgeben, diese Fertig-
keit je zu erlernen. Geliebt haben ihn seine Studenten, wie die Bauern
von Schliersee, unter denen er in den Ferien hauste, und wie die Künstler,
mit denen er an so manchem Abende den Zauber verjüngender Fröhlich-
keit zu lösen verstand. Unter seinen Mitarbeitern und Kollegen aber wird
gewiss keiner seiner Tüchtigkeit, seiner Gewissenhaftigkeit und seinem
ehrlichen und stets unbeeinflussten, männlichen Auftreten die Anerkennung
versagen können, selbst wenn ihm Stieves Güte und Treue, die über das
Grab bis an die Grenze der Erinnerung Anhänglichkeit und Verehrung
heischt, kennen zu lernen versagt geblieben wäre.

Hans v. Zwiedineck.
 
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