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MmiMreiMl IkhrgaW.

Ureis einer Wurnmer
15 Pfennig.

Jeden SonnLcrg evfcyernL
eine Wummer.


Die Mine von Ä. Gnrlott.

Roman nach dem Englischen
von
W. Wanna.
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Ja, es war Annie, obschon ich an-
fangs meinen Augen kaum traute, so
elend und abgemagert sah sie aus, so
ärmlich war ihre Kleidung, so mehr als
dürftig ihre ganze Umgebung. Wie ich
vorausgesagt, so war es gekommen: ihre
Sonne war am Untergehen, sie selbst
auf dem Heimwege. Sie weinte und
schluckste zum Erbarme», statt mich will-
kommen zu heißen, barg sie stumm ihr
Gesicht an meiner Brust. Ich fühlte
keinerlei Bitterkeit gegen sie, was immer
sie auch gethan haben mochte, sie war
schwer dafür gestraft worden. In meinen
Armen sie fcsthaltend, versuchte ich sie
zu trösten.
„Annie," sagte ich, „meine arme,
arme Annie, erzähle mir! Was ist ge-
schehen, daß ich so Dich wiedersinde?"
Doch sie brachte vor Schluchzen kein
Wort heraus, halb ohnmächtig sank sie
in einen Stuhl.
Mittlerweile war auch John Rudd
leise eingetrcten und half mir jetzt, der
Unglücklichen beizustehen. Bald entdeckten
wir die Ursache ihrer Schwäche — es
war Hunger! Das arme Ding hatte
seinen letzten Schilling ausgegeben und
seit tags vorher nicht eine Brotkrume
mehr genossen; hätten wir sie nicht auf-
. gefunden, sie wäre wohl hungernd in
den Straßen umhergeirrt. Im Nu hatte
John Rudd etwas Brot und Wein ge-
holt , von dem ich ihr mit Mühe ein
wenig beibrachte; nachdem sie es zu sich
genommen, erholte sie sich sichtlich. Die
Farbe kehrte in die durchsichtigen Wangen
zurück, ihre Augen verloren die tödliche
Mattigkeit. Ich hatte jetzt Gelegenheit,
sie genauer zu betrachten, und war ent-
setzt, zu sehen, daß die Kleider, die sie
trug, ganz abgetragen und fadenscheinig
waren; alles irgendwie nur Entbehrliche
war, wie ich bald erfuhr, verkauft oder
versetzt worden, nur um notdürftig das
Leben fristen zu können.
Als sie wieder völlig zu sich selbst
gekommen, sah sie angstvoll zu mir aus,
sie fürchtete, ich möchte weitere Fragen an
sie stellen, doch hielt ich es für besser,
die Arme im Augenblick mit solchen zu
verschonen.
„Annie," sagte ich, „fühlst Du Dich
siark genug, fortzugehen."
„Fortgehen, Hugh?" erwiderte sie.
„Ja. Ich will Dich mit mir nehmen.
Hier kannst Du nicht bleiben!"
-..Sie war zu leidend, um großen
Widerstand zu leisten. So, nachdem ich
die paar Schillinge gezahlt, die sie noch
Jllustr. Welt. XLXIV. 20.


Aus Frankreich: Tas Haus mit den Köpfen in Valence. (S. 471.)

im Hause schuldig war, verließen wir zu-
sammen die armselige Wohnung, Annie
stets einer neuen Ohnmacht nahe, schwan-
kenden Schrittes und auf meine Schulter
gelehnt. John Rudd, der sich, nachdem
er den Wein und das Brot gebracht, in
den Hintergrund zurückgezogen hatte, um
Annie durch seine Gegenwart nicht auf-
zuregen, verließ uns auch jetzt in natür-
lichem Taktgefühle, nachdem er mir noch
ins Ohr gewispert, daß er andern Mor-
gens kommen und nach uns sehen werde.
Ich nickte zustimmend und faßte darnach
meinen Entschluß.
Die Nacht war bitter kalt, ein eisiger,
schneidender Wind wehte uns entgegen,
als wir durch die Straßen schritten, ich
fühlte, daß Annie heftig zitterte, und be-
schleunigte meinen Gang. Bald erreichten
wir das Haus, wo ich Wohnung ge-
nommen hatte. Wäre ich nicht durch
meine intime Bekanntschaft mit dem all-
gemein beliebten John Rudd so gut ein-
geführt gewesen, ich hätte beinahe Be-
denklichkeiten getragen, Annie mit mir
zu nehmen, auch so noch fürchtete ich
einen frostigen Willkommen. Zu meinem
größten Erstaunen wurden wir mit offe-
nen Armen empfangen, ich entdeckte erst
nachher, daß John Rudd uns voraus-
geeilt war und alles schon in Ordnung
gebracht hatte. Die Hausfrau, eine gute,
ehrliche Seele, kam uns an der Thür
entgegen, nahm Annie mütterlichst in die
Arme und führte sie hinauf in das kleine,
trauliche Wohnzimmer.
Ich überließ ihr jene Nacht mein
Schlafzimmer und bettete mich auf das
Sopha des Nebengemaches; zu schlafen
vermochte ich nicht. Nach einer Weile
erhob ich mich wieder und fing an im
Zimmer auf und ab zu gehen. Ich
hörte bald, daß auch Annie noch auf war
und herzbrechend schluchzte; einmal war
ich beinahe daran, zu ihr hinüber zu
gehen, ich stand indes davon ab. Es
war wohl besser, daß sie mit sich allein
zu Rate ging; andern Morgens würde
sie, dachte ich mir, sich selbst eher wieder
gefunden haben — dann war die richti-
gere Zeit, mit ihr zu sprechen.
Der Morgen brachte ihr jedoch die
Ruhe nicht, im Gegenteil, Annie lag in
Delirien. Ihr blasses Gesicht war fieber-
gerötet, ihre Augen starrten weitgeöffnet
ins Leere, immer rief sie nach einem, daß
er kommen möge.
Um zehn Uhr hielt John Rudds
Fuhrwerk vor der Thüre, einen Augen-
blick später stand die treue Haut selbst
vor mir. Ich führte ihn vor das Bett
Annies und zeigte ihm die arme Kranke;
seine Augen füllten sich mit Thränen als
er sie sah. Dann gingen wir beide mit-
einander in das Nebengemach.
„Master Hugh," sagte John Rudd,
„was ist da zu thun?"
„Ich werde hier bleiben, bis es besser
mit Annie geht," sagte ich, „und dann
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