646
„Wo?"
„An den Ställen vorbei, jenseits der Pferdeweide,
nach dem Zaun —
Naomi blickte hin. Eine schwarze Gestalt lief in
dem Mondlicht auf sie zu.
„Wer kann es sein, Mrs. Potter? Doch nicht
Mr. Engelhardt?"
„Wer sonst?"
„Aber er taumelt und schwankt! Könnte es nicht
ein betrunkener Arbeiter sein? Und dennoch, es ist
seine Größe — er muß es sein — er ist es — Gott
sei Dank!"
Erst ihre Neugierde und dann ihre Betroffenheit
hatten sie regungslos im Sattel gehalten. Sie wunderte
sich später, warum sie ihm nicht entgegen geritten war.
Selbst als sein röchelnder Atem schmerzlich an ihre
Ohren drang, rührte sie sich noch nicht. Erst als der
zitternde, zu Tode erschöpfte, sprachlose junge Mann
die Arme über den Widerrist ihres Pferdes warf und
sein weißes Gesicht vorwärts auf die Mähne fiel, da
löste Naomi schweigend den Wasserbeutel los, den sie
an ihren Sattel geschnallt hatte, und hielt ihn mit
bebender Hand an seine Lippen. Zuerst schüttelte er
den Kopf. Dann schlug er seine wild blickenden Augen
mit einem flehenden, angsterfüllten Ausdruck zu ihr
empor.
„Sie wissen also, daß sie kommen?"
„Nein. Wer?"
„Sie wissen es doch, warum wären Sie sonst zu
Pferde?"
„Um Sie zu suchen. Ich war im Begriff, auszu-
brechen. Ich dachte mir, daß Sie sich im Busch ver-
irrt hätten."
„Ja. Aber ich kam an ein Lager. Man gab mir
alles, ich brauche nichts mehr. Und jetzt kommen sie
hierher, wahrscheinlich sind sie schon aus dem Weg!"
Jeder kleine Satz wurde in Pausen aus seiner ver-
dorrten Kehle hervorgestoßen. Er fühlte jetzt selbst,
wie nötig ihm eine Erquickung war, und trank in
hastigen Zügen, während sie fragte:
„Aber wer denn?"
„Die beiden Stromer, die neulich hier waren, und
Simons, der Ringläufer. Schufte, alle miteinander
Schufte!"
„O, und was wollen sie?"
„Können Sie es sich nicht denken? Das Silber!
Das Silber! Der unverschämte Dicke, der Sie so be-
schimpfte, wer glauben Sie wohl, daß er sei? ,Tiger-
hauts' Kumpan, direkt aus dem Gefängnis heraus,
der Mann, dem Ihr Vater vor zehn Jahren einen
Finger abschoß! Erinnern Sie sich noch, wie er neulich
standhaft die Hände in den Taschen behielt? Das
war die Ursache. Wir haben keinen Augenblick zu
verlieren. Ich belauschte ihre Pläne. Dor einer halben
Stunde — es kann auch eine Stunde gewesen sein —
legten sie sich nieder, um ein Schläfchen zu thun. Sie
waren betrunken und wollten sich nur ein wenig aus-
ruhen, dann kommen sie geradenwegs hierher. Sie
hatten mich angebunden, sie gedachten mich mit hierher
zu bringen; ich erzähle Ihnen später, wie ich mich
freimachte. Keinen Augenblick wagte ich zu säumen,
nicht einmal, um die Pferde loszumachen. Ich stürzte
nur so auf den Mond zu, denn ich hatte sie sagen
hören, daß die Farm direkt im Osten läge, und hier
bin ich. Gott sei Dank, daß ich Sie gefunden habe,
und schon zu Pferde. Man meint, die Vorsehung hätte
es so bestimmt. Jetzt dürfen Sie nicht abstcigen. Sie
müssen sofort nach den Hütten reiten."
„So, muß ich das?" sagte Naomi mit glänzenden
Augen, aber nicht ohne einen Anflug des alten Spottes
in ihrem Ton.
„Wir können zu Fuß folgen. Inzwischen würden
Sie die Leute in den Hütten alarmieren."
„Und mein Silber?"
Engelhardt schwieg. Das Mädchen beugte sich im
Sattel vor und legte eine Hand auf seine Schulter.
„Nein, nein, Air. Engelhardt! Kapitäne verlassen
ihre Schiffe nicht in solcher Eile. Ich bin Kapitän
hier und bleibe bei dem meinen. Es ist nicht nur das
Silber. Mein Vater roch Pulver um dieses Silbers
willen, und das geringste, was ich thun kann, ist,
seinem Beispiel zu folgen."
Während sie sprach, glitt sie vom Pferde herunter.
„Sie wollen sich in dem Lagerhaus verbarrikadieren?"
fragte Engelhardt.
„So ist's. Zu diesem Zwecke wurde es nach dem
ersten Scharmützel mit ,Tigerhaut' befestigt. Es wird
ihnen niemals gelingen, einzudringen."
„Dann werde ich an Ihrer Seite bleiben."
„Gut."
„Aber bedenken Sie, bedenken Sie, ehe es zu spät
ist! Es sind Teufel, Miß Pryse, Bestien! Ich habe
sie gesehen und gehört. Lieber hundertmal tot als in
ihrer Gewalt. Um Gottes willen, benutzen Sie das
Pferd, ehe sie kommen!"
„Ich bleibe hier," sagte Naomi bestimmt.
„Mrs. Potter und ich, wir können das Lagerhaus
ebensogut halten wie Sie. Die Schurken sollen Ihr
Illustrierte Welt.
Silber nicht bekommen, solange ich noch am Leben
bin."
„Mein Entschluß ist gefaßt," entgegnete das Mäd-
chen in einem Tone, der jeden Einwand zum Schweigen
brachte, „aber ich bin ganz Ihrer Meinung, daß jemand
nach den Hütten reiten sollte. Ich meine. Sie könnten
es thun, Mr. Engelhardt, wenn Sie sich dazu kräftig
genug fühlen!"
„Kräftig genug! O ja; aber es ist nicht sehr wahr-
scheinlich, daß ich wegreite und zwei Frauen diesen
rohen Schuften preisgebe! — Wenn es wirklich sein
muß, dann glaube ich, es ist besser, daß wir alle drei
in das Lagerhaus gehen —"
Während die jungen Leute die Lage erörterten,
hatte Mrs. Potter ihr Auge forschend auf das ge-
sattelte Pferd gerichtet. Nun schlug sie vor, daß sie
selbst nach den Hütten reiten und Hilfe holen wolle.
„Sie?" riefen die beiden wie aus einem Munde,
mit einem Blick auf die schwerfällige Gestalt der Haus-
hälterin.
„Und warum nicht?" sagte die herzhafte Frau.
„Bin ich nicht im Busch geboren und ausgewachsen?
Konnte ich nicht reiten, und zwar ohne Sattel, ehe
Sie beide das Licht der Welt erblickten? Ich bin nicht
mehr so leicht, wie ich dazumal war, und ich besitze
auch nicht mehr die alte Kraft. Aber was ich noch
davon habe, reicht für diese Stunde der Not aus; Miß
Naomi, lassen Sie mich gehen, gleich bin ich bereit."
Naomi schien in Gedanken verloren.
„Gut!" rief sie, ihre Augen vom Boden lösend.
„Aber Sie wissen den Weg nach den Hütten nicht,
und ich muß Ihnen daher erst genaue Anweisungen
geben. Sie, Mr. Engelhardt, laufen unterdes hinter
die Küche, dort werden Sie eine Menge von Wäsche-
pfählen sehen. Bringen Sie so viele davon, wie Sie
können, nach der Lagerhausveranda."
Engelhardt stürzte fort, um seinen Auftrag auszu-
' führen.' Schon hatten sie zu viel Zeit mit Worten
verschwendet. In seiner Phantasie drängten sich die
fürchterlichsten Bilder — die rohen Gesellen von Top
Scrubby, der mörderische Ueberfall, der ihnen jeden
Augenblick drohte, die unsagbare Behandlung, die
ihnen von jenen blutbefleckten Händen bevorstand —
und zwar nicht ihm allein — auch einem Weibe —
und dieses Weib war Naomi! Gott mochte ihnen bei-
stehen, wenn die Bande ankam, ehe sie sicher im Lager-
haus geborgen waren! Bis dieser schlimmste Fall ein-
trat, sollte Naomi weder wissen noch ahnen, wie
fürchterlich ihre Lage war. Engelhardt war nicht der
Mann, der die Angst und Besorgnis dieser Frauen
noch steigerte dadurch, daß er ihnen von dem Schicksal
des armen Nowntree oder von seinen eignen aus-
gestandenen Martern berichtete. Hierüber war er sich
vollkommen klar, während er sich mit gewaltiger Energie
und erleichtertem Herzen an die Erfüllung des ein-
fachen Auftrages machte, den ihm Naomi gegeben
hatte. Als er den ersten der schweren Wäschepfähle
auf die Lagerhausveranda brachte, sprachen Naomi
und die Haushälterin immer noch miteinander, obwohl
sich letztere schon in den Sattel geschwungen hatte.
Als er mit einer zweiten Last zurückkam, waren die
beiden Frauen verschwunden. Bei dem dritten Pfahl
schloß Naomi die Lagerhausthür auf. Bei dem vierten
und letzten hatte sie ein Licht drinnen angesteckt und
sägte einen der Pfähle in zwei Teile.
„So wird's recht sein," sagte sie, während ihre
Säge durch das Holz schnitt. „Jetzt halten Sie mir
diesen in die Höhe."
Sie deutete auf einen andern der massiven Pflöcke.
Sie ließ ihn das eine Ende nach innen halten, wäh-
rend das andre durch die Thür des Lagerhauses heraus-
ragte. Dann machte sie in der Höhe der Thür an
dem Pfahl ein Zeichen, sägte ihn an der bezeichneten
Stelle ab und kürzte in derselben Art auch die beiden
andern. In weniger als fünf Minuten waren aus
den vier Pfählen acht geworden, die im Innern des
Lagerhauses auf dem Boden lagen. Dann erhob sich
Naomi von den Knieen, warf die Säge wieder in den
Werkzeugkasten und machte mit dem Lichte noch einmal
die Runde, um alles zu besichtigen. Etwas Sägemehl
lag noch an einigen Stellen der Veranda umher. Aus
einer Ecke des Lagerhauses holte sie eineu Besen und
kehrte alle Spuren fort. Sie steckte den Schlüssel auf
der Innenseite in das Thürschloß und wollte eben das
Thor hinter sich und Engelhardt zuschließen, als sie
dieser daran verhinderte.
„Halt!" rief er. „Ich brauche Ihre Stiefel."
„Meine Stiesel?"
„Ja, die Sie anhaben, mit dem Staub darauf,
gerade wie sie sind. Sie müssen vor Ihr Zimmer ge-
stellt und dieses verschlossen werden. Den Schlüssel
nehmen Sie dann an sich."
Naomi schenkte ihm ein dankbares, bewunderndes
Lächeln.
„Wahrhaftig, das ist ein guter Gedanke! Ich will
selbst gehen. Währenddessen könnten Sie die Axt
von dem Holzhaufen holen. Fast hätte ich sie ver-
gessen !"
Sie liefen in verschiedenen Richtungen davon. In
der nächsten Minute waren beide wieder im Lagerhaus,
Engelhardt mit der Axt in der Hand. Naomi, die
rasch ein Paar leichte Schuhe angelegt hatte, nahm
ihm die Axt ab und setzte sie wortlos beiseite. Ihr
Gesicht war schneeweiß.
„Ich hörte etwas," flüsterte sie. „Ich hörte einen
Schrei. O, wenn sie mich gesehen hätten!"
„Wir wollen die Thür so lautlos wie möglich zu-
schließen."
Es geschah.
„Jetzt die Pflöcke!" sagte Naomi.
Engelhardt hatte sich schon gedacht, wofür sie be-
stimmt waren. Er hals sie befestigen. Das eine Ende
wurde zwischen Boden und Theke gekeilt, das andre
wider das schwere Holzwerk der Thür gestemmt. Jetzt
zeigte es sich, wie kunstgerecht Naomi ihre Balken ge-
schnitten hatte. Zwei stützten die Thür oben, zwei
unten und vier in der Mitte. Dennoch war der tapfere
Ingenieur bekümmert.
„Ich gedachte sie mit dem Hammer festzuschlagen,"
murmelte sie. „Jetzt wage ich es nicht mehr. Unsre
Angreifer könnten den Schall hören."
„Wir wollen statt dessen unser ganzes Gewicht
daran hängen," sagte Engelhardt. Sie thaten es mit
vereinter Kraft, bis jeder Pflock einmal geknarrt hatte.
Dann lauschten sie.
„Aus mit dem Licht!" sagte Naomi.
Er blies es aus. Da seine eignen Ohren noch
nichts gehört hatten, fing er an zu glauben, Naomi
hätte sich vielleicht getäuscht. Sie lauschten noch eine
Weile. Dann sagte sie:
„Wir sind für eine Belagerung verproviantiert.
Haben Sie die Flasche und die belegten Brote auf der
Theke gesehen?"
„Ja, wie in aller Welt konnten Sie Zeit finden,
dies alles bereit zu machen?"
„Ich hatte es schon bereit, ehe Sie kamen. Es war
alles für Sie bestimmt."
Die beiden kauerten dicht nebeneinander zwischen
den Pfählen. Der Mond schien durch das Oberlicht
auf eine der Wände, und die mannigfaltigen Büchsen
und Flaschen auf den Brettern schimmerten freundlich
in dem weißen Lichte. Ein matter Widerschein fiel
auf die Gesichter der beiden dicht aneinander gedrängten
Menschenkinder, die so bleich und entschlossen und doch
so sehnsuchtsvoll blickten, als ihre Augen sich trafen.
Engelhardt drückte erst seinen Dank mit Blicken aus,
dann stammelte er ihn in flüsternden Worten hervor.
Sofort legte das Mädchen den Finger auf ihre Lippen.
„Horch! Da sind sie!"
„Ja, ich höre sie auch. Aber vorläufig werden sie
uns noch nicht hören."
„Sie dürfen uns überhaupt nicht hören. Ziehen
Sie Ihre Stiefel aus — möglicherweise haben wir
umherzugehen."
Sie selbst hatte schon ihre Schuhe von den Füßen
gezogen, und da er nur eine Hand zur Verfügung
hatte, zog sie ihm mit ihren beiden Händen die
Stiefel aus.
„Das hätten Sie nicht thun sollen!"
„Weshalb nicht?"
„Es ist schrecklich! Gerade als ob Sie meine Magd
wären!"
„Mr. Engelhardt, wir müssen einander alles sein!"
Warnend hob sie die Hand und hielt inne. Die
Stimmen draußen waren jetzt deutlich vernehmbar.
„Heute nacht!" murmelte er bitter, ehe er auf ihre
Mahnung achtete.
Naomis Aufmerksamkeit war bis zum Aeußersten
angespannt. Sie neigte den Kopf, um besser zu hören;
von der einen Seite kamen die Stimmen näher und
näher.
„Ja, dort brach er zusammen, gerade dort!" Es
war Tigerhauts Kumpan, Bill, der diese Worte sprach.
„Ziehen Sie den Schlüssel aus der Thür!" flüsterte
Engelhardt Naomi zu, die näher daran war. Sie
hatten es vergessen. Einen bangen Augenblick zögerte
das Mädchen, dann streckte sie vorsichtig ihre Hand
aus und zog den Schlüssel lautlos heraus.
„Dies also ist die Bude?" hörten sie den Matrosen
sagen.
„Dieselbe alte Bude," antwortete Bill. „Gerade
wie vor zehn Jahren, nur ein bißchen frisch beworfen.
Sie ist doch wohl zugeschlossen, Kamerad?"
Die Klinke wurde versucht. Die Thür bewegte sich
ein klein wenig. Die beiden im Innern blickten die
Pflöcke an und hielten den Atem an. Wenn einer der
Pfähle zu Boden fiel!
„Ja, es ist ganz ordnungsgemäß verschlossen. Es
wird wohl auch seine Richtigkeit damit haben, daß
das Mädchen mit dem Schlüssel unter dem Kopfkissen
schläft."
„Ach, du mit deinen verwünschten Vermutungen!"
sagte Bill. „Du thätest besser daran, nachzuschauen,
ob der Schlüssel hier nicht von innen steckt."
Der Fingerhut voll Sternenhimmel, den Naomi
die letzten anderthalb Minuten beobachtet hatte, war
„Wo?"
„An den Ställen vorbei, jenseits der Pferdeweide,
nach dem Zaun —
Naomi blickte hin. Eine schwarze Gestalt lief in
dem Mondlicht auf sie zu.
„Wer kann es sein, Mrs. Potter? Doch nicht
Mr. Engelhardt?"
„Wer sonst?"
„Aber er taumelt und schwankt! Könnte es nicht
ein betrunkener Arbeiter sein? Und dennoch, es ist
seine Größe — er muß es sein — er ist es — Gott
sei Dank!"
Erst ihre Neugierde und dann ihre Betroffenheit
hatten sie regungslos im Sattel gehalten. Sie wunderte
sich später, warum sie ihm nicht entgegen geritten war.
Selbst als sein röchelnder Atem schmerzlich an ihre
Ohren drang, rührte sie sich noch nicht. Erst als der
zitternde, zu Tode erschöpfte, sprachlose junge Mann
die Arme über den Widerrist ihres Pferdes warf und
sein weißes Gesicht vorwärts auf die Mähne fiel, da
löste Naomi schweigend den Wasserbeutel los, den sie
an ihren Sattel geschnallt hatte, und hielt ihn mit
bebender Hand an seine Lippen. Zuerst schüttelte er
den Kopf. Dann schlug er seine wild blickenden Augen
mit einem flehenden, angsterfüllten Ausdruck zu ihr
empor.
„Sie wissen also, daß sie kommen?"
„Nein. Wer?"
„Sie wissen es doch, warum wären Sie sonst zu
Pferde?"
„Um Sie zu suchen. Ich war im Begriff, auszu-
brechen. Ich dachte mir, daß Sie sich im Busch ver-
irrt hätten."
„Ja. Aber ich kam an ein Lager. Man gab mir
alles, ich brauche nichts mehr. Und jetzt kommen sie
hierher, wahrscheinlich sind sie schon aus dem Weg!"
Jeder kleine Satz wurde in Pausen aus seiner ver-
dorrten Kehle hervorgestoßen. Er fühlte jetzt selbst,
wie nötig ihm eine Erquickung war, und trank in
hastigen Zügen, während sie fragte:
„Aber wer denn?"
„Die beiden Stromer, die neulich hier waren, und
Simons, der Ringläufer. Schufte, alle miteinander
Schufte!"
„O, und was wollen sie?"
„Können Sie es sich nicht denken? Das Silber!
Das Silber! Der unverschämte Dicke, der Sie so be-
schimpfte, wer glauben Sie wohl, daß er sei? ,Tiger-
hauts' Kumpan, direkt aus dem Gefängnis heraus,
der Mann, dem Ihr Vater vor zehn Jahren einen
Finger abschoß! Erinnern Sie sich noch, wie er neulich
standhaft die Hände in den Taschen behielt? Das
war die Ursache. Wir haben keinen Augenblick zu
verlieren. Ich belauschte ihre Pläne. Dor einer halben
Stunde — es kann auch eine Stunde gewesen sein —
legten sie sich nieder, um ein Schläfchen zu thun. Sie
waren betrunken und wollten sich nur ein wenig aus-
ruhen, dann kommen sie geradenwegs hierher. Sie
hatten mich angebunden, sie gedachten mich mit hierher
zu bringen; ich erzähle Ihnen später, wie ich mich
freimachte. Keinen Augenblick wagte ich zu säumen,
nicht einmal, um die Pferde loszumachen. Ich stürzte
nur so auf den Mond zu, denn ich hatte sie sagen
hören, daß die Farm direkt im Osten läge, und hier
bin ich. Gott sei Dank, daß ich Sie gefunden habe,
und schon zu Pferde. Man meint, die Vorsehung hätte
es so bestimmt. Jetzt dürfen Sie nicht abstcigen. Sie
müssen sofort nach den Hütten reiten."
„So, muß ich das?" sagte Naomi mit glänzenden
Augen, aber nicht ohne einen Anflug des alten Spottes
in ihrem Ton.
„Wir können zu Fuß folgen. Inzwischen würden
Sie die Leute in den Hütten alarmieren."
„Und mein Silber?"
Engelhardt schwieg. Das Mädchen beugte sich im
Sattel vor und legte eine Hand auf seine Schulter.
„Nein, nein, Air. Engelhardt! Kapitäne verlassen
ihre Schiffe nicht in solcher Eile. Ich bin Kapitän
hier und bleibe bei dem meinen. Es ist nicht nur das
Silber. Mein Vater roch Pulver um dieses Silbers
willen, und das geringste, was ich thun kann, ist,
seinem Beispiel zu folgen."
Während sie sprach, glitt sie vom Pferde herunter.
„Sie wollen sich in dem Lagerhaus verbarrikadieren?"
fragte Engelhardt.
„So ist's. Zu diesem Zwecke wurde es nach dem
ersten Scharmützel mit ,Tigerhaut' befestigt. Es wird
ihnen niemals gelingen, einzudringen."
„Dann werde ich an Ihrer Seite bleiben."
„Gut."
„Aber bedenken Sie, bedenken Sie, ehe es zu spät
ist! Es sind Teufel, Miß Pryse, Bestien! Ich habe
sie gesehen und gehört. Lieber hundertmal tot als in
ihrer Gewalt. Um Gottes willen, benutzen Sie das
Pferd, ehe sie kommen!"
„Ich bleibe hier," sagte Naomi bestimmt.
„Mrs. Potter und ich, wir können das Lagerhaus
ebensogut halten wie Sie. Die Schurken sollen Ihr
Illustrierte Welt.
Silber nicht bekommen, solange ich noch am Leben
bin."
„Mein Entschluß ist gefaßt," entgegnete das Mäd-
chen in einem Tone, der jeden Einwand zum Schweigen
brachte, „aber ich bin ganz Ihrer Meinung, daß jemand
nach den Hütten reiten sollte. Ich meine. Sie könnten
es thun, Mr. Engelhardt, wenn Sie sich dazu kräftig
genug fühlen!"
„Kräftig genug! O ja; aber es ist nicht sehr wahr-
scheinlich, daß ich wegreite und zwei Frauen diesen
rohen Schuften preisgebe! — Wenn es wirklich sein
muß, dann glaube ich, es ist besser, daß wir alle drei
in das Lagerhaus gehen —"
Während die jungen Leute die Lage erörterten,
hatte Mrs. Potter ihr Auge forschend auf das ge-
sattelte Pferd gerichtet. Nun schlug sie vor, daß sie
selbst nach den Hütten reiten und Hilfe holen wolle.
„Sie?" riefen die beiden wie aus einem Munde,
mit einem Blick auf die schwerfällige Gestalt der Haus-
hälterin.
„Und warum nicht?" sagte die herzhafte Frau.
„Bin ich nicht im Busch geboren und ausgewachsen?
Konnte ich nicht reiten, und zwar ohne Sattel, ehe
Sie beide das Licht der Welt erblickten? Ich bin nicht
mehr so leicht, wie ich dazumal war, und ich besitze
auch nicht mehr die alte Kraft. Aber was ich noch
davon habe, reicht für diese Stunde der Not aus; Miß
Naomi, lassen Sie mich gehen, gleich bin ich bereit."
Naomi schien in Gedanken verloren.
„Gut!" rief sie, ihre Augen vom Boden lösend.
„Aber Sie wissen den Weg nach den Hütten nicht,
und ich muß Ihnen daher erst genaue Anweisungen
geben. Sie, Mr. Engelhardt, laufen unterdes hinter
die Küche, dort werden Sie eine Menge von Wäsche-
pfählen sehen. Bringen Sie so viele davon, wie Sie
können, nach der Lagerhausveranda."
Engelhardt stürzte fort, um seinen Auftrag auszu-
' führen.' Schon hatten sie zu viel Zeit mit Worten
verschwendet. In seiner Phantasie drängten sich die
fürchterlichsten Bilder — die rohen Gesellen von Top
Scrubby, der mörderische Ueberfall, der ihnen jeden
Augenblick drohte, die unsagbare Behandlung, die
ihnen von jenen blutbefleckten Händen bevorstand —
und zwar nicht ihm allein — auch einem Weibe —
und dieses Weib war Naomi! Gott mochte ihnen bei-
stehen, wenn die Bande ankam, ehe sie sicher im Lager-
haus geborgen waren! Bis dieser schlimmste Fall ein-
trat, sollte Naomi weder wissen noch ahnen, wie
fürchterlich ihre Lage war. Engelhardt war nicht der
Mann, der die Angst und Besorgnis dieser Frauen
noch steigerte dadurch, daß er ihnen von dem Schicksal
des armen Nowntree oder von seinen eignen aus-
gestandenen Martern berichtete. Hierüber war er sich
vollkommen klar, während er sich mit gewaltiger Energie
und erleichtertem Herzen an die Erfüllung des ein-
fachen Auftrages machte, den ihm Naomi gegeben
hatte. Als er den ersten der schweren Wäschepfähle
auf die Lagerhausveranda brachte, sprachen Naomi
und die Haushälterin immer noch miteinander, obwohl
sich letztere schon in den Sattel geschwungen hatte.
Als er mit einer zweiten Last zurückkam, waren die
beiden Frauen verschwunden. Bei dem dritten Pfahl
schloß Naomi die Lagerhausthür auf. Bei dem vierten
und letzten hatte sie ein Licht drinnen angesteckt und
sägte einen der Pfähle in zwei Teile.
„So wird's recht sein," sagte sie, während ihre
Säge durch das Holz schnitt. „Jetzt halten Sie mir
diesen in die Höhe."
Sie deutete auf einen andern der massiven Pflöcke.
Sie ließ ihn das eine Ende nach innen halten, wäh-
rend das andre durch die Thür des Lagerhauses heraus-
ragte. Dann machte sie in der Höhe der Thür an
dem Pfahl ein Zeichen, sägte ihn an der bezeichneten
Stelle ab und kürzte in derselben Art auch die beiden
andern. In weniger als fünf Minuten waren aus
den vier Pfählen acht geworden, die im Innern des
Lagerhauses auf dem Boden lagen. Dann erhob sich
Naomi von den Knieen, warf die Säge wieder in den
Werkzeugkasten und machte mit dem Lichte noch einmal
die Runde, um alles zu besichtigen. Etwas Sägemehl
lag noch an einigen Stellen der Veranda umher. Aus
einer Ecke des Lagerhauses holte sie eineu Besen und
kehrte alle Spuren fort. Sie steckte den Schlüssel auf
der Innenseite in das Thürschloß und wollte eben das
Thor hinter sich und Engelhardt zuschließen, als sie
dieser daran verhinderte.
„Halt!" rief er. „Ich brauche Ihre Stiefel."
„Meine Stiesel?"
„Ja, die Sie anhaben, mit dem Staub darauf,
gerade wie sie sind. Sie müssen vor Ihr Zimmer ge-
stellt und dieses verschlossen werden. Den Schlüssel
nehmen Sie dann an sich."
Naomi schenkte ihm ein dankbares, bewunderndes
Lächeln.
„Wahrhaftig, das ist ein guter Gedanke! Ich will
selbst gehen. Währenddessen könnten Sie die Axt
von dem Holzhaufen holen. Fast hätte ich sie ver-
gessen !"
Sie liefen in verschiedenen Richtungen davon. In
der nächsten Minute waren beide wieder im Lagerhaus,
Engelhardt mit der Axt in der Hand. Naomi, die
rasch ein Paar leichte Schuhe angelegt hatte, nahm
ihm die Axt ab und setzte sie wortlos beiseite. Ihr
Gesicht war schneeweiß.
„Ich hörte etwas," flüsterte sie. „Ich hörte einen
Schrei. O, wenn sie mich gesehen hätten!"
„Wir wollen die Thür so lautlos wie möglich zu-
schließen."
Es geschah.
„Jetzt die Pflöcke!" sagte Naomi.
Engelhardt hatte sich schon gedacht, wofür sie be-
stimmt waren. Er hals sie befestigen. Das eine Ende
wurde zwischen Boden und Theke gekeilt, das andre
wider das schwere Holzwerk der Thür gestemmt. Jetzt
zeigte es sich, wie kunstgerecht Naomi ihre Balken ge-
schnitten hatte. Zwei stützten die Thür oben, zwei
unten und vier in der Mitte. Dennoch war der tapfere
Ingenieur bekümmert.
„Ich gedachte sie mit dem Hammer festzuschlagen,"
murmelte sie. „Jetzt wage ich es nicht mehr. Unsre
Angreifer könnten den Schall hören."
„Wir wollen statt dessen unser ganzes Gewicht
daran hängen," sagte Engelhardt. Sie thaten es mit
vereinter Kraft, bis jeder Pflock einmal geknarrt hatte.
Dann lauschten sie.
„Aus mit dem Licht!" sagte Naomi.
Er blies es aus. Da seine eignen Ohren noch
nichts gehört hatten, fing er an zu glauben, Naomi
hätte sich vielleicht getäuscht. Sie lauschten noch eine
Weile. Dann sagte sie:
„Wir sind für eine Belagerung verproviantiert.
Haben Sie die Flasche und die belegten Brote auf der
Theke gesehen?"
„Ja, wie in aller Welt konnten Sie Zeit finden,
dies alles bereit zu machen?"
„Ich hatte es schon bereit, ehe Sie kamen. Es war
alles für Sie bestimmt."
Die beiden kauerten dicht nebeneinander zwischen
den Pfählen. Der Mond schien durch das Oberlicht
auf eine der Wände, und die mannigfaltigen Büchsen
und Flaschen auf den Brettern schimmerten freundlich
in dem weißen Lichte. Ein matter Widerschein fiel
auf die Gesichter der beiden dicht aneinander gedrängten
Menschenkinder, die so bleich und entschlossen und doch
so sehnsuchtsvoll blickten, als ihre Augen sich trafen.
Engelhardt drückte erst seinen Dank mit Blicken aus,
dann stammelte er ihn in flüsternden Worten hervor.
Sofort legte das Mädchen den Finger auf ihre Lippen.
„Horch! Da sind sie!"
„Ja, ich höre sie auch. Aber vorläufig werden sie
uns noch nicht hören."
„Sie dürfen uns überhaupt nicht hören. Ziehen
Sie Ihre Stiefel aus — möglicherweise haben wir
umherzugehen."
Sie selbst hatte schon ihre Schuhe von den Füßen
gezogen, und da er nur eine Hand zur Verfügung
hatte, zog sie ihm mit ihren beiden Händen die
Stiefel aus.
„Das hätten Sie nicht thun sollen!"
„Weshalb nicht?"
„Es ist schrecklich! Gerade als ob Sie meine Magd
wären!"
„Mr. Engelhardt, wir müssen einander alles sein!"
Warnend hob sie die Hand und hielt inne. Die
Stimmen draußen waren jetzt deutlich vernehmbar.
„Heute nacht!" murmelte er bitter, ehe er auf ihre
Mahnung achtete.
Naomis Aufmerksamkeit war bis zum Aeußersten
angespannt. Sie neigte den Kopf, um besser zu hören;
von der einen Seite kamen die Stimmen näher und
näher.
„Ja, dort brach er zusammen, gerade dort!" Es
war Tigerhauts Kumpan, Bill, der diese Worte sprach.
„Ziehen Sie den Schlüssel aus der Thür!" flüsterte
Engelhardt Naomi zu, die näher daran war. Sie
hatten es vergessen. Einen bangen Augenblick zögerte
das Mädchen, dann streckte sie vorsichtig ihre Hand
aus und zog den Schlüssel lautlos heraus.
„Dies also ist die Bude?" hörten sie den Matrosen
sagen.
„Dieselbe alte Bude," antwortete Bill. „Gerade
wie vor zehn Jahren, nur ein bißchen frisch beworfen.
Sie ist doch wohl zugeschlossen, Kamerad?"
Die Klinke wurde versucht. Die Thür bewegte sich
ein klein wenig. Die beiden im Innern blickten die
Pflöcke an und hielten den Atem an. Wenn einer der
Pfähle zu Boden fiel!
„Ja, es ist ganz ordnungsgemäß verschlossen. Es
wird wohl auch seine Richtigkeit damit haben, daß
das Mädchen mit dem Schlüssel unter dem Kopfkissen
schläft."
„Ach, du mit deinen verwünschten Vermutungen!"
sagte Bill. „Du thätest besser daran, nachzuschauen,
ob der Schlüssel hier nicht von innen steckt."
Der Fingerhut voll Sternenhimmel, den Naomi
die letzten anderthalb Minuten beobachtet hatte, war