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Dr. Alice Sperbei
allgemeines Schönheits- und Weiblichkeitsideal überhaupt. Auch die
Ansicht, daß Beatrice in der Vita nuova sowohl biographische als
auch allegorische Bedeutung haben könne, läßt sich natürlich ver»
treten, insbesondere, da ja audi die Realisten von der Doppel-
bedeutung Beatricens in der Commedia überzeugt sind.
Da es natürlich für alle, die über Beatrice arbeiten, unerläß-
lich ist, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, möchte ich vor allem
betonen, daß es für diese Arbeit nicht darauf ankommt, ob Dantes
Beatrice mit Beatrice Portinari identisch war oder nicht, Für das, was
hier vorgebracht werden soll, genügt die Voraussetzung, daß Dante
in jungen Jahren irgendein weibliches Wesen platonisch geliebt habe,
daß aber seine Beziehungen zu der Geliebten ein Ende fanden, als
er in noch jugendlichem Alter stand, wobei es gleichgiltig ist, ob
Beatrice wirklich von einem frühen Tode ereilt wurde, oder ob sie
nur für ihren Dichter gestorben war. Ihr Andenken aber lebte so
unvergänglich in Dantes Seele, daß ihre Verherrlichung zeitlebens
sein höchstes Ziel blieb.
Für alle, die diese Grundlage bestreiten sollten, kommt diese
Arbeit nicht in Betracht, doch müßte man dann mit der merkwiir^
digen Erscheinung rechnen, daß fast das ganze Schaffen des Dichters
durch eine Vorstellung inspiriert worden sei, die in seinem persön-
lichen Erleben keine Rolle spielte. Sehr auffallend wäre dann auch
das außerordentlich zähe Festhalten an dieser Vorstellung, denn die
Vita nuova verfaßte er als er ungefähr sechsundzwanzig Jahre zählte
und der Gedanke an die Divina Commedia beschäftigte ihn bis an
sein Lebensende.
Noch einen Umstand möchte ich hervorheben, der mir für das
Beatriceproblem wichtig scheint. Bei Boccaccio, der in seiner Dante»
biographie der Vita nuova volle Bewunderung zollt, findet sich fol»
gende Stelle: E comeche egli di aver questo libretto fatto
negli anni piü maturi si vergognasse molto, nondimeno con»
siderata Ja sua etä, e egli assai bello e piacevole e massimamente
a' volgari1.
Diese Bemerkung Boccaccios scheint sich auf eine Stelle in
Dantes Convivio zu beziehen, den philosophischen Kommentar,
welchen der Dichter zur Erklärung einiger von ihm selbst verfaßter
philosophischer Kanzonen schrieb und zu dessen Abfassungszeit der
Dichter nicht mehr jung war. Dort heißt es: E se nella presente
opera la quäle e Convito nominato er vo'che sia, piü virilmente si
trattasse che nella vita nuova, non intendo perö a quella in parte
alcuna derogare, ma maggiormente giovare per questa quella, veg-
gendo siccome ragionevolmente quella fervida e passionata, questa
1 In sinngemäßer Übersetzung: Und obwohl er sich in reiferen Jahren sehr
schämte, dieses Büchlein gemacht zu haben, ist es doch, wenn man das Alter
bedenkt, in dem es verfaßt wurde, sehr schön und anmutig, besonders für die»
jenigen, die nicht imstande sind lateinische Werke zu lesen.
Dr. Alice Sperbei
allgemeines Schönheits- und Weiblichkeitsideal überhaupt. Auch die
Ansicht, daß Beatrice in der Vita nuova sowohl biographische als
auch allegorische Bedeutung haben könne, läßt sich natürlich ver»
treten, insbesondere, da ja audi die Realisten von der Doppel-
bedeutung Beatricens in der Commedia überzeugt sind.
Da es natürlich für alle, die über Beatrice arbeiten, unerläß-
lich ist, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, möchte ich vor allem
betonen, daß es für diese Arbeit nicht darauf ankommt, ob Dantes
Beatrice mit Beatrice Portinari identisch war oder nicht, Für das, was
hier vorgebracht werden soll, genügt die Voraussetzung, daß Dante
in jungen Jahren irgendein weibliches Wesen platonisch geliebt habe,
daß aber seine Beziehungen zu der Geliebten ein Ende fanden, als
er in noch jugendlichem Alter stand, wobei es gleichgiltig ist, ob
Beatrice wirklich von einem frühen Tode ereilt wurde, oder ob sie
nur für ihren Dichter gestorben war. Ihr Andenken aber lebte so
unvergänglich in Dantes Seele, daß ihre Verherrlichung zeitlebens
sein höchstes Ziel blieb.
Für alle, die diese Grundlage bestreiten sollten, kommt diese
Arbeit nicht in Betracht, doch müßte man dann mit der merkwiir^
digen Erscheinung rechnen, daß fast das ganze Schaffen des Dichters
durch eine Vorstellung inspiriert worden sei, die in seinem persön-
lichen Erleben keine Rolle spielte. Sehr auffallend wäre dann auch
das außerordentlich zähe Festhalten an dieser Vorstellung, denn die
Vita nuova verfaßte er als er ungefähr sechsundzwanzig Jahre zählte
und der Gedanke an die Divina Commedia beschäftigte ihn bis an
sein Lebensende.
Noch einen Umstand möchte ich hervorheben, der mir für das
Beatriceproblem wichtig scheint. Bei Boccaccio, der in seiner Dante»
biographie der Vita nuova volle Bewunderung zollt, findet sich fol»
gende Stelle: E comeche egli di aver questo libretto fatto
negli anni piü maturi si vergognasse molto, nondimeno con»
siderata Ja sua etä, e egli assai bello e piacevole e massimamente
a' volgari1.
Diese Bemerkung Boccaccios scheint sich auf eine Stelle in
Dantes Convivio zu beziehen, den philosophischen Kommentar,
welchen der Dichter zur Erklärung einiger von ihm selbst verfaßter
philosophischer Kanzonen schrieb und zu dessen Abfassungszeit der
Dichter nicht mehr jung war. Dort heißt es: E se nella presente
opera la quäle e Convito nominato er vo'che sia, piü virilmente si
trattasse che nella vita nuova, non intendo perö a quella in parte
alcuna derogare, ma maggiormente giovare per questa quella, veg-
gendo siccome ragionevolmente quella fervida e passionata, questa
1 In sinngemäßer Übersetzung: Und obwohl er sich in reiferen Jahren sehr
schämte, dieses Büchlein gemacht zu haben, ist es doch, wenn man das Alter
bedenkt, in dem es verfaßt wurde, sehr schön und anmutig, besonders für die»
jenigen, die nicht imstande sind lateinische Werke zu lesen.