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John T. Mac Curdy
fliegen1 wie die anderen, nicht weil sein Körper, sondern weil sein
Wille dazu nicht ausreichte,
Daß in einer erfundenen Geschichte ein Autor die Allmacht
der Gedanken einer unterirdischen Menschenrasse zugeschrieben hat,
ist interessant genug, doch ist es ebenso bedeutungsvoll, womöglich
zu bestimmen, wieso er dazu kam, eine solche Erzählung überhaupt
zu schreiben. Was konnte einen außerordentlich stark beschäftigten
Mann veranlassen, seine Zeit damit hinzubringen, daß er, während
der Tod schon vor seiner Türe stand, sich eine Geschichte zusammen-
dachte, die weder Handlung noch wissenschaftliche Möglichkeit ent»
hält, ja im Grunde nichts ist als ein Knäuel kindischer Phantasien?
Die Antwort auf diese Frage kann die Psychoanalyse geben; Durch
das Studium der Neurosen und noch viel mehr der Psychosen haben
wir erfahren, daß eine andauernde Tendenz existiert, Verpflichtungen
des Lebens und der Realität durch die Materialisation und Inkar»
nation von Phantasien aus dem Wege zu gehen. Wir wissen, daß
alle Halluzinationen und Sinnestäuschungen der direkte oder sym»
bolische Ausdrude von Wünschen sind, die aus dem Unbewußten
stammen. Zu Beginn des Daseins gibt es eine ungeteilte Persönlich»
keit — zu einer Zeit, wo zwischen Realität und Phantasie keine
scharfe Grenze gezogen wird •—- doch sowie gewisse Begierden des
Kindes mit den ethischen Anforderungen oder dem Niitzlichkeits»
Standpunkt, der sich nach und nach entwidcelnden bewußten Person»
lichkeit in Konflikt geraten, werden sie in ein tieferes Seelengebiet,
in das Unbewußte verdrängt, ohne doch je unterzugehen. Sie exi»
stieren weiter, bestimmen jede unserer Affektreaktionen und formen
unnachsichtig unser Leben. Aber dieses Ventil genügt nicht. Wenn
aus den Anforderungen des Lebens Situationen entstehen, welche
eine allzugroße Anpassungsleistung erfordern, dann regrediert das
Individuum zu dem Zustand seiner ersten Kindheit und beginnt
wieder in der Welt seiner Phantasie zu leben. Wenn ihm eine
Schwäche des Anpassungsvermögens konstitutionell anhaftet, so sieht
er diese Einbildungen für reale Erfahrungen an und ist »verrückt«,-
ein Mensch mit elastischerem Charakter findet für die durch die un»
bewußten Wünsche aufgehäufte Energie einen Ausweg, der mit der
Realität vereinbar ist. Dies kann er so tun, daß er eine niedrigere
Leidenschaft in ein höherstehendes symbolisches Äquivalent subli»
miert, wie es z. B, der Fall ist, wenn ein Mädchen, das von seiner
Bindung an den Vater überwältigt wird, den Trieb dieser verbotenen
Liebe in den Dienst des göttlichen Vaters hinüberlenkt. Der Mann,
dem unsere gegenwärtige Untersuchung gilt, zeigt eine andere Me»
thode. Er verwirklicht seine Wünsche in der Form eines Romans.
1 Die symbolische Bedeutung des Fliegens, das nach Ansicht der Psycho»
anafytiker häufig den Koitus darstellt, wird dadurch aufgehellt, daß vom weiblichen
Geschlecht der Sitte gemäß ausschließlich Jungfrauen ihre Flügel benützen. Bei der
Heirat wurden die Flügel über dem Ehebett aufgehängt,- symbolische Befriedigung
war nun nicht weiter notwendig.
John T. Mac Curdy
fliegen1 wie die anderen, nicht weil sein Körper, sondern weil sein
Wille dazu nicht ausreichte,
Daß in einer erfundenen Geschichte ein Autor die Allmacht
der Gedanken einer unterirdischen Menschenrasse zugeschrieben hat,
ist interessant genug, doch ist es ebenso bedeutungsvoll, womöglich
zu bestimmen, wieso er dazu kam, eine solche Erzählung überhaupt
zu schreiben. Was konnte einen außerordentlich stark beschäftigten
Mann veranlassen, seine Zeit damit hinzubringen, daß er, während
der Tod schon vor seiner Türe stand, sich eine Geschichte zusammen-
dachte, die weder Handlung noch wissenschaftliche Möglichkeit ent»
hält, ja im Grunde nichts ist als ein Knäuel kindischer Phantasien?
Die Antwort auf diese Frage kann die Psychoanalyse geben; Durch
das Studium der Neurosen und noch viel mehr der Psychosen haben
wir erfahren, daß eine andauernde Tendenz existiert, Verpflichtungen
des Lebens und der Realität durch die Materialisation und Inkar»
nation von Phantasien aus dem Wege zu gehen. Wir wissen, daß
alle Halluzinationen und Sinnestäuschungen der direkte oder sym»
bolische Ausdrude von Wünschen sind, die aus dem Unbewußten
stammen. Zu Beginn des Daseins gibt es eine ungeteilte Persönlich»
keit — zu einer Zeit, wo zwischen Realität und Phantasie keine
scharfe Grenze gezogen wird •—- doch sowie gewisse Begierden des
Kindes mit den ethischen Anforderungen oder dem Niitzlichkeits»
Standpunkt, der sich nach und nach entwidcelnden bewußten Person»
lichkeit in Konflikt geraten, werden sie in ein tieferes Seelengebiet,
in das Unbewußte verdrängt, ohne doch je unterzugehen. Sie exi»
stieren weiter, bestimmen jede unserer Affektreaktionen und formen
unnachsichtig unser Leben. Aber dieses Ventil genügt nicht. Wenn
aus den Anforderungen des Lebens Situationen entstehen, welche
eine allzugroße Anpassungsleistung erfordern, dann regrediert das
Individuum zu dem Zustand seiner ersten Kindheit und beginnt
wieder in der Welt seiner Phantasie zu leben. Wenn ihm eine
Schwäche des Anpassungsvermögens konstitutionell anhaftet, so sieht
er diese Einbildungen für reale Erfahrungen an und ist »verrückt«,-
ein Mensch mit elastischerem Charakter findet für die durch die un»
bewußten Wünsche aufgehäufte Energie einen Ausweg, der mit der
Realität vereinbar ist. Dies kann er so tun, daß er eine niedrigere
Leidenschaft in ein höherstehendes symbolisches Äquivalent subli»
miert, wie es z. B, der Fall ist, wenn ein Mädchen, das von seiner
Bindung an den Vater überwältigt wird, den Trieb dieser verbotenen
Liebe in den Dienst des göttlichen Vaters hinüberlenkt. Der Mann,
dem unsere gegenwärtige Untersuchung gilt, zeigt eine andere Me»
thode. Er verwirklicht seine Wünsche in der Form eines Romans.
1 Die symbolische Bedeutung des Fliegens, das nach Ansicht der Psycho»
anafytiker häufig den Koitus darstellt, wird dadurch aufgehellt, daß vom weiblichen
Geschlecht der Sitte gemäß ausschließlich Jungfrauen ihre Flügel benützen. Bei der
Heirat wurden die Flügel über dem Ehebett aufgehängt,- symbolische Befriedigung
war nun nicht weiter notwendig.