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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 3.1914

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III.4
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Brill, Abraham A.: Die Psychopathologie der neuen Tänze
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https://doi.org/10.11588/diglit.42096#0414

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Dr. A, A. Brill

der Tanzepidemie auch daran erkennen, daß Preßnachrichten zufolge
sogar der Papst sich dagegen ausgesprochen und weniger tadelns-
werten Ersatz angeboten hat, und daß die meisten Religionslehrer
aller Kirchen das Tanzen scharf verurteilen. Doch die Epidemie
greift weiter um sich und wird allem Anschein nach immer populärer.
Wohin man auch immer kommt, sei es in ein Restaurant oder in
ein Privathaus, man kann sicher sein, zu jeder Tageszeit mit den
wohlbekannten Melodien der neuen Tänze begrüßt zu werden. Neben
den Thees dansants und dem nicht authörenden Tanzen am Abend
und in der Nacht, gibt es in einigen Lokalen auch schon Dejeuners
dansants. Eine Tatsache steht ganz zweifellos fest, daß die große
Mehrzahl der Menschen, ob reich oder arm, die neuen Tänze tanzen
will, allen Einwendungen zum Trotz.
Was ist nun die Ursache und worin besteht die Bedeutung
dieses psychischen Ausbruchs? Bevor wir diese Fragen beantworten
wird es das beste sein zu hören, was einige bekannte Autoren
über das Tanzen im allgemeinen zu sagen haben. Havelock Ellis,
der dieses Gebiet am eingehendsten studiert hat, kommt zu dem
Schluß, daß die alten Tänze nichts anderes waren als Kundgebungen
des sexuellen Instinktes1. Er sagt: »Bei zivilisierten Völkern ist es
<das Tanzen) nicht nur ein Anreiz zur Liebe, sondern sehr oft ein
Ersatz für die normale Befriedigung des sexuellen Instinktes, indem
es etwas von dem Wohlbehagen und von der Erleichterung nach
dem Liebesgenuß gewährt. Man kann das besonders bei jungen
Frauen beobachten, die off eine große Summe von Energie beim
Tanzen verausgaben, und sich dadurch keine Müdigkeit, sondern
ein Gefühl des Glückes und der Befriedigung verschaffen. Es ist
bezeichnend, daß junge Mädchen, wenn sie angefangen haben, mit
Männern geschlechtlich zu verkehren, gewöhnlich sehr viel von ihrem
Eifer beim Tanzen verlieren. Es ist interessant festzustellen, daß
selbst unsere modernen Tänze alten Stils einen sexuellen Ursprung
haben. So war der populärste aller Tänze, der Walzer, ursprüng-
lich <wie Schaller, von Groos zitiert, feststellt) »der Schluß eines
komplizierten Tanzes, der die ganze Geschichte einer Liebe darstellt,
mit dem Verfolgen und Entfliehen, dem neckischen Schmollen und
Sichentziehen und der Apotheose der Hochzeit«.
Eduard Fuchs2 sagt, daß ebenso wie Gesang und Schmuck
der Tanz ein erotischer Köder ist, und daß, ganz gleich in welcher
Form, er immer etwas Erotisches ist, das in Rhythmen übertragen
das Lieben, Werben, Zögern, Versprechen und endliche Nachgeben
darstellt. In der Tat kommen alle Beobachter zu demselben Sdiluß3.
Sie behaupten übereinstimmend, daß der Tanz einem sexuellen Zweck
dient, nicht nur bei zivilisierten Menschen, sondern auch bei den

1 Analysis of sexual impuls, p. 47.
2 Illustrierte Sittengeschichte.
3 Vgl. auch Scheuer, die Erotik im Tanze (Sexualprobleme, Januar 1911).
 
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