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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 5.1917-1919(1919)

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Marcinowski, S.: Zum Kapitel Liebeswahl und Charakterbildung
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https://doi.org/10.11588/diglit.25679#0207

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Zum Kapitel Liebeswahl und Charakterbifdung

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ob gebundene Staatsehe oder freie Liebesverhältnisse in selbst ver-
antwortlidier oder audi unverantwortlidier Form das Naturgemäßere
und darum Riditigere, Zweckmäßigere und in diesem Sinne Ge*
siindere sei. Daß beide Formen zu Recht bestehen und nidit vom
polygamen oder monogamen Charakter des Mannes, sondern von
dem zufälligen Wert — will sagen: Typenzugehörigkeit — des
Weibes abhängen, d. h. davon, ob es dem Mann als Ersatz der
Mutter oder nur als eine weitere Vermehrung der Reihe seiner
Jugendgespielinnen ersdieint, gesetzmäßig ersdieint, nach Gesetzen
ersdieint, die wir nidit in der Hand haben, nadi denen wir das ge-
worden sind, was wir sind. Je nachdem werden wir die eine zu
dauernder Ehe begehren miissen, die andereebenso grundsätzlich nicht.
Und hat man irrtümlicherweise dieUnpassende geheiratet, so wird diese
Ehe an dem Begegnen mit der ri&tigen zerbredien miissen, genau
so wie der Mann geswungen ist, trotz aller »Eheirrungen« immer
wieder zur Ehefrau zurück^ und heimzukehren und von ihr nicht
loskann, wenn sie eine echte Vertreterin seines Muttertypus ist.

Man sieht, es handelt sich hier um iebenswichtigste Fragen. Der
von Blüher beschriebene Fall schaltet nun zwischenMutter und Gattin
die Sdiwester ein, so daß das Liebesurbild der Mutter vor der
jüngeren und vor allem auch für erotische Beziehungen allgemeiner
zugänglichen Schwester verblaßt und nun diese zum Leitmotiv für
die Gattenwahl wird. Die Schwester ist also nicht nur der erste
und vornehmste Mutterersatz, sondern gewinnt aus der Dauer
unb Innigkeit dieser kindlichen Beziehungen auch ihrerseits die Kraft
zu selbständiger dauernder und inniger Liebesfesselung in ihrem
Ersatztypus, der so den Mann zum Ehebegehren, zum festgefügten
heimgebenden Besitze nötigt. Man ehelicht also seinen Schwester-
ersatz, ich möchte sagen inktusive Mutter,

Zu diesem Normalschema wil! ich nun ergänzend eine ein®
sdilägige Beobachtung mitteilen, die mir im Punkt der männlichen
Charakterbildung ganz besonders bedeutungsvoll dünkt, und in dem
sich das ganze Lebenssdhicksal dadurch von der Norm abweichend
gestaltete, daß die Schwester nicht Mutterersatz, sondern Vater-
ersatz darstellte. Mir stehen in Tagebuchnotizen eingehende Daten
zur Verfügung, die ich nach Möglichkeit ausnützen wiil: das lebens-
volle Bild der Wirklichkeit werde ich damit allerdings nicht erreichen
können. Ich gebe deshalb nur die gröbsten Züge wieder.

Der Mann ist hochgebildet, aber weich und überaus schmerz»
empfindlich in seinem Gemüt und, obwohl oft rasch und leicht ent-
schlossen in kleinen Dingen, so bis zur ausgesprochen neurotischen
Angst entschlußunfähig in dem großen Konflikt seines Ehelebens.
Er hatte sehr jung geheiratet. Seine in der Jugend auffallend sdhöne
Mutter war das Vorbild für diese Wahf gewesen. Die Ehe war
aber vom ersten Tage an getrübt durch die vo!lbered|tigte Eifersucht
der Frau auf eine jüngere Sdiwester des Mannes, berechtigt insofern,
als sie all die EigensAaften besaß, die der Mann an seiner Frau
 
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