Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 5.1917-1919(1919)

DOI Artikel:
Marcinowski, S.: Zum Kapitel Liebeswahl und Charakterbildung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.25679#0208

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
198

Dr. Marcinowski

vermißte. Sie ergänzten sich gegenseitig/ wir können gleidi sagen,
die Frau entspradi dem Körper der Mutter, die Sdiwester dem
Cliarakter des Vaters, die Frau zugleidi der geistigen Unterlegen-
heit der Mutterdem hochbedeutenden Vater gegenüber,- dieSchwester
dagegen war wissenschaftlich interessiert und teilte von klein auf das
geistig angeregteLeben ihres über alies geliebtenBruders in hohemMaße,
Sie war also sowohl geistig als audi alsCharakter das rechte Kind ihres
Vaters und sadilirh voll bereditigt, als der Träger seines geistigen
Erbguts zu gelten, während der Bruder wohl den hohen Flug seiner
Gedanken geerbt hatte, sich aber im übrigen als die Verkörperung der
ewig kindlichen und alsCharakter weniger wertvollen Mutter beklagte 1.

In der ersten Zeit der Ehe war der Mann glüddich und blind
für die eifersüchtige Not seiner Frau. Er hatte in der gleichsam
»Doppelehe« die Erfüllung aller Strebungen gefunden; in der Frau
liebte er den Körper der Mutter, ihren Charakter lehnte er <wie
den der Mutter) ab,- in der Schwester wurde ihm ergänzend die
eigentliche Lebensgefährtin und innerste Genossin seiner geistigen
und gemütlichen Persönlichkeit zuteil. Als dieses Verhältnis <durch
Eifersucht der Frau) unhaltbar wurde, entfremdete er sich allmählich
von seiner Frau, entwertete sie mehr und mehr und geriet ständig
suchend auf Irrwege. Schließlich begegnete ihm in Gestalt einer Haus-
genossin eine Frau, die ihm die verlorengegangene Schwester in geistiger
Hinsicht und durch ihre ganze Persönlidhkeit in höchstem Maße ersetzte 2.
Als Ersatz der Schwester wurde die Persönlichkeit, die auch
äußerlich an deren Stelle trat, übrigens bewußt und deutlich empfunden.
Ihr Charakter wies in mehr als einer Hinsicht feste, männliche Züge auf.

Sehen wir nun zu, wie sich die Dinge weiter entwidcelten und
sdiließlich dazu führten, daß der Mann seine Ehe mit dem Mutter-
ersatz löste, und genau wie er die Liebe zur Mutter als Kind eine
Weile mit der Liebe zum Vater vereinigt hatte und dann der letz-
teren als der weit wertvolleren den Vorzug gab, so auch hier den
Vaterersatz schließlich als den wertvolleren erachtete, den Weg zur
Ehe aber mit ihm genau wie in dem Blüherschen Falle über die
Sdiwester hinüber fand.

Aus dem Begegnen als Hausgenossen erwuchs den beiden
Menschen zunächst eine kurze Spanne Liebesglüdcs, dann aber folgten
Jahre herbster Q.ual für alle Beteiligten. Der Mann konnte sich nicht
entschließen, die für ihn längst wertlos gewordene Verbindung mit
der Ehefrau <Mutterersatz> zu lösen und die als »Schwester« ge-
wertete Geliebte <eigentlich Vaterersatz) voll und ganz zu seiner

1 Das erwies sidi in der Analyse als unedit, als nidit organisch, sondern als
Ausdrudt einer unbewuRten Gleicbsetzung mit der geliebten Mutter, zum Zwedc
des Liebesgewinnes vom Vater her.

2 Die leiblidie Sdiwester wurde übrigens von dem Tage an für den Mann
unwichtig, als deren Ersatz in sein Liebesleben eintrat, was für die Lehre von den
“Übertragungen« widitig ist. Es hatte den Ansdiein, als ob der Liebesaffekt hier
ein gewisses Quantum war, das man von einem Platz wegnehmen und wo anders
hintun könne.
 
Annotationen