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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 5.1917-1919(1919)

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Bardas, Willy: Zur Problematik der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.25679#0376

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Willy Bardas

Man könnte nadh dem Bisherigen .annehmen, daß der Spieltrieb
allein eine genügende Erklärung für unser Kunsttreiben bildet.
Allein damit sind wir nur scheinbar an der Wurzel angelangt. Denn
der Spieltrieb stellt nur die Brücke zwischen unserem wirklichen
Leben und dem Scheinleben der Kunst dar. Unser wirkliches Leben
wird in erster Linie beherrscht von jenem Trieb, der auf der
Gegensätzlichkeit der Geschlechter beruht und der nicht unsere
Selbsterhaltung unter akzidentellen Umständen wie im Kampf,
sondern vielmehr unser unmittelbares Fortbestehen im weitesten
Sinn bezweckt. Und dieses Weiterbestehen, als tiefster Sinn unserer
Triebe, muß eine umso gesteigertere Sehnsucht gerade derer sein,
die wir im Vorangehenden als die im Lebenskampf der Wirklichkeit
Schwächeren bezeichnet haben: — die Künstler. Gerade für diese
also ist der Geschlechtstrieb von aliergrößter Bedeutung. Denn er
gewährleistet audi denen, deren Lebenskampf ungünstig steht, den
Fortbestand. Mußten sie sich mit Hiife des Spieltriebs ein Schein-
leben gestalten, in dem die unbefriedigten Triebe ihres Daseins
noch zu ihrem Recht kommen, so fällt die Frage »Sein oder Nicht-
Sein« beim Geschlechtskampf nicht mehr als vital, ais iebens-
gefährdend, in die Wagschale. Denn sein Ziel ist nicht mehr nur
die Selbsterhaitung durch Beseitigung der Gefahr, sondern der
Fortbestand auf Grundlage der Willensvereinigung beider Teile.
Hier also haben die lebensbejahenden Instinkte aiier, auch der im
Lebenskampf Schwächeren, in Wirklichkeit Verneinten, ihren wahren
Tummeiplatz. Und insofern wir ihnen, wie bereits ausgeführt, die
Entstehung der Kunst verdanken, insofern besteht eine innigste
Verknüpfung der Kunst mit dem Geschiechtstrieb,

Es wurde zu Anfang behauptet, daß die Musik die populärste
Kunst sei, und im Bisherigen gezeigt, welches die Wurzeln der
Kunst iiberhaupt sind. Aufgabe des Folgenden wird es also sein,
nachzuweisen, warum gerade der Musik eine so tiefe Verankerung
im Triebhaften zu einer besonderen Popularität verhelfen muß.

Die Sondersteliung der Musik unter den Künsten wird durch
zwei Tatsachen gekennzeidhnet:

Erstens bietet sie zwischen dem Äußerungstrieb und dem
akustischen Produkt dem Inteilekt keinen Raum. Während alle
anderen Künste sich mit der inteliektuellen Wiedergabe des Ge-
schehens befassen, um, sei es durch Wort, Bild oder Gebärde,
Gefühle wachzurufen, so befaßt sich die Musik mit den Reflexen
des Geschehens im Individuum, d. h. mit den durch das Ge-
sdrehen ausgelösten Gefühlen, und läßt erst, gewissermaßen durdi
Reflexion der Gefühle auf ein sie erwedcendes Geschehen, ein
Gleichnis oder Schattenspiel des letzteren entstehen.

Zweitens bedarf die Musik zur Betätigung des Äußerungs-
triebes keines mechanischen Behelfs als der Stimme, also des eigenen
Körpers. Denn die von Instrumenten ausgeführte Musik ist auch
bei den primitivsten Völkern bereits eine gesteigerte Entwiddungs-
 
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