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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 32.1916-1917

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Vollmer, Hans: Die Erziehung zum Kunstgenuss
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https://doi.org/10.11588/diglit.13746#0436

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DIE ERZIEHUNG ZUM KUNSTGENUSS

Von Hans Vollmer

Trotz aller Popularisierungsversuche bleibt
die Tatsache bestehen, daß der gebildete
Laie aus keiner geistigen Beschäftigung we-
niger Vergnügen, weniger wirklichen Genuß
zu schöpfen versteht als aus der Betrachtung
der Werke der bildenden Kunst. Nirgends be-
lügt man sich und andere schmählicher als in
diesem Punkt. Wenn man die Besucherscharen
durch die großen Museen ziehen sieht und
beobachtet, wie sie mit gelangweilten Mienen
freudlos Saal für Saal absolvieren, dann möchte
man diese Statisten bedauern, daß sie ihre
Stunden nutzlos in diesen „Totenkammern der
Kunst" vertun, anstatt sich lieber den für
jeden offenen Freuden der Natur zu ergeben.
Warum nicht in Rom lieber Streifzüge durch
die Campagna als die Scheingenüsse der Ga-
lerien, in Venedig lieber Lido als Akademie,
in Berlin lieber Havelspaziergänge als Kaiser
Friedrich-Museum und Nationalgalerie! Frei-

lich finden dazu wenige den Mut, und die ihn
finden, kommen leicht in den Verruf von Ba-
nausen. Die Allgemeinheit unterschätzt die
Schwierigkeiten, bildende Kunst zu genießen.
Um ein inneres Verhältnis zur Kunst zu ge-
winnen, dazu gehört nicht nur ein fein organi-
siertes Auge, sondern auch Selbsterziehung.
Das gilt sogar schon gegenüber der zeitgenössi-
schen Kunst. Wir leben in einer Zeit der Kunst-
anarchie, einer Epoche völliger Stillosigkeit,
wie sie ohne Beispiel in der Kunstgeschichte
ist. Nicht daß die Kunstproduktion unserer
Tage qualitativ wesentlich geringer wäre als die
vergangener Zeiten; aber es fehlt ihr ein ge-
meinsames Stilfundament. Wir haben nur einen
Individuaisiii, aber keinen Zeitstil. Es fehlen
alle Stilzusammenhänge zwischen den führen-
den Künstlerpersönlichkeiten unserer Tage.
Das Anarchische dieses Zustandes hat wieder
zurückgewirkt auf das Publikum, das seiner-
 
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