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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 32.1916-1917

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Raphael, Max: Das Problem der Darstellung
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https://doi.org/10.11588/diglit.13746#0450

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keit, Geschlossenheit und Unbegrenztes in
einem. Er ist körperlich, anschaulich und doch
geistig und unendlich. Er ist Leben und doch
Form.

Es muß nachdrücklich betont werden, daß
der Begriff des Organismus ebenso wie der
des Körpers ein Analogiebegriff ist, der, wollte
man ihn wörtlich nehmen, zu großen Irrtümern
führen würde. Dieser quasi Organismus ist
von dem natürlich-organischen Gebilde insofern
völlig verschieden, als er auf einer ganz an-
deren Ebene zustande kommt. Wohl gelten —
richtig verstanden — alle Lebensfunktionen
des Organismus auch im Kunstwerk, aber
nicht mehr als Realität natürlichen, sondern
geistigen Seins. Dieser Unterschied bedingt
eine ebenso wichtige wie oft vernachlässigte
Folgerung: daß das unmittelbare Leben, die
lebendige Entwicklung, das Steigen der Säfte,
das Wachsen direkt von der Kunst ebenso-
wenig dargestellt werden kann als von der
Philosophie, und daß der Künstler, der das unter-
nimmt, sich damit über die Grenzen der rein
darstellenden Kunst hinwegsetzt und der be-
schreibenden notwendig in die Arme fällt.
Das Leben der Natur und die Lebendigkeit
der Kunstform haben einen fundamentalen
Unterschied, der es für immer unmöglich
macht, die eine durch die andere wiederholen
zu wollen. Das Wort Organismus ist also als

Bezeichnung des Kunstwerkes in gewissem
Sinne auch nur ein Notbehelf. —

Die grundlegende Bedeutung der Darstel-
lung liegt also darin, daß sie das Spezifische
der Kunst darstellt, so daß Cezanne mit völ-
ligem Recht sagen konnte: „Der größte Künst-
ler wird derjenige sein, der am tiefsten sehen
und so vollkommen realisieren wird wie die
großen Venetianer." Man kann diese Tat-
sache nicht genug durch Aussprüche autorita-
tiver Künstler erhärten. Denn nur die voll-
ständige Unklarheit über diesen Punkt läßt
das Publikum immer wieder glauben, daß die
erhabene Idee, der mystische Unendlichkeits-
drang oder die Naturnachahmung das Wesent-
liche der Kunst sind. Beide Extreme gelten gleich
wenig nach dem Goetheschen Spruch: „Der Dich-
ter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste
derselben ist, wenn sie mit derselben wetteifert,
d.h. wenn ihre Schilderungen durch den Geist
dargestellt lebendig sind, daß sie als gegenwär-
tig für jedermann gelten können. Auf ihrem
höchsten Gipfel scheintdie Phantasieganzäußer-
lich; je mehr sie sich ins Innere zurückzieht,
desto mehr ist sie auf dem Wege zu sinken. —
Diejenige, die nur das Innere darstellt, ohne es
durch ein Aeußeres zu verkörpern, oder ohne
das Aeußere durch das Innere durchfühlen zu
lassen, sind beides die letzten Stufen, von wel-
chen aus sie ins gemeine Leben hineintritt."

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