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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 4.1906

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Chronik
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der andere aber einen konkaven Bogen bildet. So ferner
die Attitüde, die ich hier skizziert habe, und die die
Tänzerin, fast niedergekauert, nach vorn gebeugt, mit
der Brust ein gekrümmtes Knie berührend und die Füsse
nach hinten werfend, zeigt. Ist das nicht wunderbar
schön und neu? Das ist es, was mich überzeugt, dass
meine kleinen Freundinnen vollkommen sind wie die
Antike. Und wenn sie schön sind, so sind sie es, weil
sie natürlich richtige Bewegungen hervorbringen...." —
Auf die Frage des Besuchers, was eigentlich unter einer
richtigen Bewegung zu verstehen sei, sagte Rodin: „Das
lässt sich nicht definieren. Eine falsche Bewegung ist in
der Skulptur dasselbe wie eine falsche Note in der Musik.
Was ist aber eine falsche Note? Man muss das Ohr da-
für haben . . . Nun, und bei uns muss man das Auge
haben. Man kann nur sagen, dass alle Bewegungen des
Körpers, wenn sie harmonisch und richtig sind, sich in
einen geometrischen Plan einschreiben lassen, dessen
Linien einfach und wenig zahlreich sind. Die Griechen
hatten die Empfindung für dieses Gesetz, und meine
kleine Prinzessinnen haben sie auch. Sie besitzen natür-
lich die Kenntnis der Harmonie und der Wahrheit, oder
man besitzt sie für sie, denn ich denke mir, dass die
Prinzessin Samphoudry, die sie führt, und der König
Sisowath, der sie unterhält, grosse Künstler (?) sein
müssen. Woher kommt ihnen diese Kenntnis? Sie ge-
horchen eben der Natur, ihrer Natur und suchen nicht
das Seltene und das Künstliche. Ihre Überlegenheit er-
kannte ich sofort an dem Abend, als ich sie auf dem
Pre-Catelan sah. Sie hatten zu tanzen aufgehört; man
klatschte Beifall, aber lässig, denn das pariser Publikum
ist nicht mehr fähig, die reine Schönheit zu erkennen.
Nach ihnen kamen sogenannte „griechische Tänze": es
war zum Heulen, ja, zum Heulen, denn alles war hier
falsch, geschminkt, künstlich. . . . Bis zum 18. Jahr-
hundert hatte man bei uns neben dem Respekt für die
Tradition die Liebe zur klassischen Harmonie. Dann
kam eine Schule auf, die sich von der Natur entfernend
das alles umgewandelt hat und der wir jetzt unsern
schlechten Geschmack verdanken. Und dieser schlechte
Geschmack breitet sich überall aus, auf der Strasse und
in den Wohnungen, in der Kunst ebenso gut wie in den
Möbeln! . . . Wenn ich in meinen Anfängen ein Modell
kommen liess, fragte ich es immer zuerst, in welchen
Ateliers es schon „gearbeitet" hatte. Wenn es aus der
Akademie kam, merkte ich es sofort. Sobald es nur auf
den Modelltisch gestiegen war, sah ich es eine jener
Bewegungen annehmen, die es dort gelernt hatte, und
diese Bewegung war immer falsch. Wie sollte es auch
anders sein? Was lehrt man denn in der Akademie?
Die Komposition! Die Komposition ist aber Theater-
wissenschaft, die Wissenschaft der Lüge. Bleiben wir

also bei der Natur: in ihr ist die ewige Wissenschaft
und die unversiegbare Quelle. Durch sie werden wir
immer die Wahrheit kennen lernen. Es ist ein Zeichen
von Ohnmacht, wenn man sich auf die Phantasie ver-
lässt. Die Phantasie ist doch nur die Gabe, Erinnerungen
zu kombinieren. Unsere Erinnerungen sind aber be-
grenzt und unsere Phantasie ist beschränkt; dagegen
bietet uns die unendliche Natur fortwährend ein grosses
Magazin neuer Sensationen. Und wenn ich Sisowaths
kleine Tänzerinnen liebe, so geschieht es, weil sie mir
mit den rhythmischen Bewegungen ihrer Körper ein
Natureckchen, das mir bis dahin noch unbekannt war,
enthüllt haben . . ." Als der Besucher fragte, ob die in
Marseille aufgenommenen Skizzen und Zeichnungen
die Unterlage für neue Werke des Künstlers bilden
würden, erwiderte Rodin melancholisch: „Ach! nein,
wie sollte ich so etwas machen? Wenn ich jünger wäre,
wäre ich mit den Tänzerinnen in ihre Heimat gegangen,
hätte sie dort in Müsse studiert und hätte aus ihren Atti-
tüden und aus ihren die Körperformen so vortrefflich
zur Geltung bringenden Kostümen etwas zu machen
versucht . . . Aber dazu ist es nun zu spät. Und ich
bedaure das sehr, denn ich bin sicher, dass die Beobach-
tung ihrer Bewegungen, die für uns so neu sind, in
unsere Bildhauerkunst Elemente der Erneuerung und
intensiven Lebens einführen würde. Was mich betrifft,
so kann ich nur sagen, dass ich von ihnen gelernt habe ..."

Die Verlagsbuchhandlung Bruckmann in München
hat einen Katalog aller farbigen Werke von Adolf
Menzel in Schwarz-Weiss-Drucken hergestellt, der von
Hugo von Tschudi eine kurze Einleitung erhalten hat.
Zu Grunde liegt dem sehr umfangreichen Bande die
Ausstellung, die im vorigen Jahre in der Nationalgalerie
dem Andenken an den verstorbenen Grossmeister ge-
weiht .war; es sind noch einige Bilder hinzugekommen,
die in der Nationalgalerie nicht ausgestellt waren. So
hat man also ein unendlich inhaltreiches Werk vor sich,
das auch in Anbetracht des Gebotenen für den Preis
(ioo M.) nicht zu teuer ist. Und dennoch kann man
nicht behaupten, dass man zu erheblichem Genuss komme,
indem man es durchblättert: die Seiten sind allzu prak-
tisch mit den Aufnahmen von zu viel Abbildungen
gefüllt. „Weniger würde mehr gewesen sein", sagt der
Laie. Offenbar wendet sich diese Ausgabe auch nament-
lich an den, der das vollständige Werk von Menzel vor-
zunehmen wünscht, an den Fachmann, oder an den, der
des Werkes zu Nachschlagezwecken bedarf, für welche
beiden Ziele es auch thatsächlich eine Lücke ausfüllt und
eine Notwendigkeit darstellt.

VIERTER JAHRGANG, ZWÖLFTES HEFT. REDAKTIONSSCHLUSS AM 14. AUGUST. AUSGABE AM 30. AUGUST NEUNZEHNHUNDERTSECHS
VERANTWORTLICH FÜR DIE REDAKTION: BRUNO CASSIRER, BERLIN. GEDRUCKT IN DER OFFIZIN VON W. DRUGDLTN ZU LEIPZIG.
 
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