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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 2.1890/​91

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Vom Christmarkt
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151

Vom Christmarkt.

152

war dies das A und 0, sie konnten sich nimmer
genug darin thun und alle übrige Natur schien
nebensächlich neben dem Menschen. In unserer
Kunst hat sich dies griechische Erbteil erhalten;
auch wir räumen der menschlichen Gestalt die erste
Stelle im Reiche der Schönheit ein und eine weite
Kluft trennt sie von allem übrigen in der lebenden
und toten Natur. Anders der Japaner, dem nichts
in der Natur unbedeutend dünkt. Er ist der wahre
Kosmophile, der alles mit gleicher
Liebe betrachtet und jeder Bewe-
gung, von welch kleinem Dinge
sie immer ausgehe, eifrig nachspürt
und sie mit dem Pinsel zu bannen
sucht. Ein im Winde schwanken-
der Grashalm, eine gekräuselte
Wasserfläche, eine Vogelspur im
Schnee scheint ihm würdig in Na-
turgrösse kopirt zu werden, ebenso
würdig mindestens wie ein rasender
Ronin oder ein stillvergnügtes Jung-
fräulein. Die „Entdeckung des
Menschen", eine Errungenschaft der
Renaissance, war in Japan nicht
möglich. Dort entdeckte man die
ganze Welt auf einmal. Dem Ja-
paner ist ein mit Meisterschaft ge-
zeichnetes Spinnwebnetz mit einem
welken Blatte, kein untergeord-
neteres Bild als eine historische
Episode mit vielen „unsterblichen"
Gestalten. Stillleben, Landschaft,
Historie stehen für ihn auf einer
Stufe. In Japan kann kein Meister
Professor der Historienmalerei wer-
den, schon deshalb nicht, weil er
sich nicht auf ein kleines Gebiet
— das der Menschendarstellung —
beschränkt. Er würde sich selbst
dürftig vorkommen, wollte er sein
Leben lang nur Katzen, nur Mön-
che, nur Salontiroler, nui Karikaturen malen. Ihm
ist die ganze herrliche Natur zum Königreich ge-
geben und als wirklicher uomo universale hat er
nicht nur die Kraft, sie zu fühlen und zu gemessen
sondern auch sie nachzuschaffen, sie ganz mit dem
Pinsel zu beherrschen.

Jedes Blatt in Bings japanischem Formenschatze
predigt diese Meisterschaft, die bei uns nur wenige,
wie z. B. Menzel, erreichen. Man gehe nur die
Blätter mit Sorgfalt durch und bemühe sich, ihre

Aus Bings Japanischem Formenschatze.
(Leipzig, Seemann.)

Sprache zu verstehen! Und damit kommen wir wie-
der auf das Goethische Sonett zurück, von dem wir
oben die ersten Zeilen anführten:

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
und wenn wir erst in abgeniessnen Stunden
Mit Geist und Herz uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

Ja, ein Bemühen gehört dazu, eine Art Selbst-
erziehung, ohne die überhaupt kein Kunstgenuss zu
denken ist. Um eine Radirung
Rembrandts zu begreifen, dazu ist
ein liebevolles Studium erforder-
lich; um eine Beethovensche Sym-
phonie zu fassen, eine lange musi-
kalische Erziehung. So gewiss dies
ist, so gewiss ist es auch, dass der
Wert der japanischen Kunst nicht
im Handumdrehen dem Beschauer
klar wird. Erwirb es, um es zu
besitzen! heisst es hier wie überall
im Reiche des Schönen. Ein Mann,
dem wir gleichfalls ein treffliches
Werk über Japan verdanken,
C. Netto, erzählt uns, dass es für
den Europäer, der dort im Innern
reist, anfangs misslich sei, nichts
zu bekommen als Reis und immer
Reis, noch dazu in jener für unsere
Zungen schalen Zubereitung. Wenn
man aber, fährt er fort, erst hinter
das feine Aroma des Reises ge-
kommen ist und die edlen Sorten
von den geringen sofort unter-
scheiden gelernt hat, mag man ihn
gar nicht mehr anderes geniessen,
als in jener Zubereitung. Nun was
für den Reis gilt, soll auch von
der japanischen Kunst gelten. Wer
nicht nur einen kalt staunenden
Besuch bei ihr gemacht hat, sondern
ihr ins Innere „wie in den Busen
eines Freunds" zu schauen vermochte, dem wird sie
mit reichem Genuss die aufgewandte Mühe lohnen.
Dass die Kreuzung der abendländischen Begriffs-
welt mit japanischen Dar- imd Vorstellungen mit-
unter merkwürdige Ergebnisse hat, beweist uns der
Berliner Künstler Georg Schöbet, der in der Illustra-
tion der „Prinzenmärchen" (Verlag von Titze) die
merkwürdigsten künstlerischen Gedaukensprünge
macht. Der Inhalt des Textes giebt freilich einige
Veranlassung dazu. Die erste der Träumereien •■"'-
 
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