Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 23.1912

DOI Artikel:
Literatur
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5954#0091

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
159

Literatur

160

LITE RATU R

Der Kodex des Giuliano da Sangallo in der Vati-
kanischen Bibliothek.1) Seit zwei Jahrhunderten von den
Gelehrten benutzt, hat der Barberinische San Gallo-Kodex
doch erst in verhältnismäßig neuerer Zeit jenes ernsthafte
Studium gefunden, wie es der Bedeutung seines Inhalts ent-
sprach. Müntz, Geymüller und endlich Fabriczy haben sich
mit dem Inhalt des Bandes eingehend beschäftigt, und dem
Letztgenannten verdankt man in seiner ausgezeichneten
Monographie über die Handzeichnungen Giulianos da San-
gallo (Stuttgart 1902) die erste vollständige Beschreibung
des Bandes. Die moderne archäologische Wissenschaft
aber empfindet das Bedürfnis, die vorzüglichsten Samm-
lungen von Zeichnungen nach den antiken Monumenten
vollständig reproduziert dem Studium zu erschließen, da
ohne die ständige Konfrontation exakt zu arbeiten nicht
möglich ist; und so folgt nun der Ausgabe der dem
Andreas Coner zugeschriebenen Zeichnungen in London,
die von Ashby besorgt wurde (1904), der Publikation des
Codex Escurialensis, die man Egger verdankt (1906), die
Gesamtedition des Barberinianus durch Christian Hülsen
in einer Ausgabe, die an graphischer Treue alles bisher
Geleistete in Schatten stellt. Und schon wird die voll-
ständige Veröffentlichung der Skizzenbücher Martin van
Heemskerks angekündigt.

Seine besondere Bedeutung verdankt der Barberi-
nische Kodex vor allen andern Sammlungen dieser Art
dem Umstand, daß er die einzige ist, die von einem der
führenden Architekten der Renaissance herrührt. Wir
dürfen also hoffen, hier authentisch zu erfahren, wie ein
im großen Stil selbständig Schaffender die Kunst der Ver-
gangenheit anschaute, was ihn an dieser vorzüglich inter-
essierte, wie er sie verstand.

Der vorliegende Band ist allmählich entstanden; die
Zeichnungen verteilen sich über einen Zeitraum von an-
nähernd fünfzig Jahren, fast über die gesamte Dauer,
die dem künstlerischen Schaffen des San Gallo beschieden
war. Es waren ursprünglich einzelne Pergamentblätter,
zum Teil schon mit Zeichnungen versehen, als die Samm-
lung in einem Band vereinigt wurde. Die erste Lage war
kleiner im Format, wurde aber durch angeklebte Streifen
auf die gleiche Größe mit den übrigen Lagen gebracht.
Schon die ungewöhnliche Größe der Pergamentblätter (der
Kodex mißt 451/a Zentimeter in der Höhe zu 39 Zenti-
meter in der Breite) schließt den Gedanken aus, daß es
sich um Skizzen des Architekten direkt nach den Monu-
menten handelt. Hier bediente er sich des allgemein üb-
lichen Oktavbandes, den er leicht mit sich führen konnte:
es ist das Skizzenbuch (taccuino), das ein besonders
günstiger Umstand uns ebenfalls bewahrt hat, und das
einen Stolz der Stadtbibliothek von Siena bildet"). In dieses
hatte der Meister seine Skizzen eingetragen und kopierte
nun mit Sorgfalt, zum Teil die Federzeichnungen mit Bister,
gelegentlich mit Farbe lavierend, seine Aufzeichnungen auf
die großen Pergamentblätter. Allerdings, was Fabriczy
(1. c. S. 73) hervorhebt, ragt im Sieneser Buch »eine Reihe
von Blättern ornamentalen Charakters durch die außer-
ordentliche Sorgfalt und Feinheit der Behandlung vor
manchem ähnlichen jener größeren Zeichnungsbuches
hervor.«

1) II libro di Giuliano da Sangallo. Codice Vaticano
Barberiniano latino 4424, con introduzione e note di
Cristiano Hülsen. Lipsia, Ottone Harassowitz, MDCCCCX.
1 Band in Folio und 1 Band Groß-40.

2) Es liegt vollständig in einer von R. Falb besorgten
Ausgabe vor, die 1902 in Florenz bei Olschki erschienen ist.

Was nun den großen Tafelband angeht, so scheint
es an Treue der photomechanischen Wiedergabe das Höchste
darzustellen, was die Technik der Gegenwart unter der
ständigen Kontrolle durch einen mit der Herausgabe be-
trauten Gelehrten von Hülsens Rang zu leisten vermag.
Die Sorgfalt geht so weit, daß selbst die leeren Pergament-
blätter wiedergegeben worden sind, so daß der Benutzer
den Band selbst in der Hand zu haben sich einbilden darf
und daran jede auf die äußere Zusammensetzung gerichtete
Untersuchung vornehmen kann — gerade als hätte er in
der Vatikana das Original in Händen. Daß jede Feinheit,
die die modern angewandte Photographie hervorzuholen
vermag, auf den Blättern herauskommt, bedarf kaum der
Erwähnung. In einzelnen Fällen, wo durch den Zustand
der Erhaltung das Auge aus den Resten kaum ein klares
Bild zu gewinnen vermag, hat Hülsen noch von erfahrener
Hand die undeutlichen Konturen zu klarer graphischer
Gestalt rekonstruieren lassen. Auf Foglio 1 z. B. waren
zur Anbringung des in prächtiger Majuskel geschriebenen
Titels, worin man den Namen des Autors und die Jahres-
zahl 1465 als Anfang der Sammlung liest, die ursprüng-
lichen Federzeichnungen fortradiert worden, darunter eine,
die ein prachtvoll in reichsten Frührenaissanceformen ge-
schnitztes und mit Intarsia geziertes Chorgestühl wieder-
gibt; vielleicht Entwurf für die Arbeit, die Giuliano im
Refektorium von San Pietro de' Cassinesi in Perugia aus-
führte. Eine sehr sorgfältige Nachzeichnung findet man
auf dem ersten Blatt des dem Textband beigegebenen
Appendix. Auf Foglio 3 befand sich ursprünglich eine
mit dem Stift gezeichnete figürliche Komposition, die so
verblaßt ist, daß sie selbst dem so überaus sorgfältigen
Fabriczy entgangen war. Auch sie findet sich nachgezogen
unter den Blättern des Appendix. Ich hebe diese Beispiele
hervor, um von der außerordentlichen Sorgfalt, die der
Herausgeber hat walten lassen, einen Begriff zu geben.

Die Subtilität der Untersuchungen, die der Textband
enthält, entspricht der Treue der photomechanischen Wieder-
gabe. Den Hauptteil bildet eine Beschreibung der einzelnen
Blätter des Kodex mit genauer Erläuterung einer jeden
Einzelheit: wo ein architektonisches Detail ursprünglich
zu sehen war, und wo man es heute findet, oder wo
sonst dies gleiche Stück in früherer Zeit wiedergegeben
worden ist. Zahreiche in den Text eingestreute Illustrationen,
namentlich aus dem Destailleur-Kodex des Berliner Kunst-
gewerbe-Museums, ermöglichen dem Benutzer die voll-
ständige Nachprüfung. Alle Beischriften, die, soweit sie
in Kurrentschrift von Giuliano gegeben sind, der Ent-
zifferung einige Schwierigkeiten bereiten, sind selbstver-
ständlich mit Sorgfalt transkribiert und erläutert.

Der »Beschreibung der Tafeln«, die den Hauptteil des
Textbandes bildet, geht eine Einleitung vorauf, die absolut
mustergültig ist für die Editionen solchen Charakters. Das
erste Kapitel handelt von den Schicksalen des Kodex: hier
ist es Hülsen gelungen nachzuweisen, daß er sich um die
Mitte des 17. Jahrhunderts im Besitz des Kardinals Sacchetti
befand, dessen Familie seit einigen Jahrzehnten den alten
San Gallo-Palast in der Via Giulia in Rom zu eigen besaß.
Nicht sehr viel später, wahrscheinlich nach dem Tode ge-
nannten Kardinals im Jahre 1663, ist der kostbare Band in
Barberinischen Besitz übergegangen, um erst in unseren
Tagen mit dem ganzen Besitztum an Handschriften jener
Papstfamilie der vatikanischen Bibliothek einverleibt zu
werden. Im zweiten Kapitel ist die äußere Entstehung
des Kodex geschildert, seine Zusammenstellung aus fünf
Faszikeln (im ganzen 69 Foglioseiten) klar gemacht. Wie
die Blätter ursprünglich sich zueinander verhielten, wann
 
Annotationen