Betrachtung der Natur- und der Runstformen. Der
Schüler soll nicht kopiren, sondern das Alte verstehen,
das Neue sinden lernen. Lr soll von vornherein zur
chelbständigkeit erzogen und angeleitet werden, aus
der Natur selbst zu schöpfen, soll von ihr nur lernen,
wie ein Grganisches sich gesetzmäßig, harmonisch und
ausdrucksvoll gestaltet, lernen, die an der Naturform
studirten Bildungsgesetze auch beim kunstgewerblichen
Bchaffen zu befolgen. Denn das Runstwerk soll keine
eigentliche Naturnachahmung sein, sondern sich bei
den intimsten Naturanalogien in einer künstlerisch
durchaus vergeistigten Gesamtform und in hochgradig
und schön stilisirtem Ornament aussprechen." Somit
verfolgt Nleurer in seinen Anleitungen zunächst mehr
künstlerisch-pädagogische als praktische Zwecke; indem
er den Bchüler aus das Gesetz- und Zweckmäßige in
dem Bau der pflanzen aufmerksam macht, will er
sein künstlerisches Lmxfinden in der kVeise bilden,
daß er die Analogien auf kunstgewerblichem Gebiete
erkennt und dem Naturvorbild entsprechend behandelt.
So muß denn der Bchüler zuerst mit den unab-
änderlichen Gesetzen vertraut werden, nach denen alles
Grganische sich bildet. Der Bau der pflanze von der
wurzel bis zur Blüte, wie jeder Teil aus dem vor-
hergehenden sich notwendig entwickelt, ist das gegebene
mustergiltige Beispiel; nicht minder jeder Teil für sich.
Die Naturform ist ja nicht willkürlich und zufällig,
sondern der sichtbare, zweckverkündende Ausdruck eines
in ihrem Znnern schaffenden lebendigen Gedankens,
den man als wille zum Leben bezeichnen mag. Diese
Zweckmäßigkeit giebt sich beispielsweise in der Art zu
erkennen, wie der vom Btamme sich ausbreitende
Zweig, bevor er kräftig geworden ist, sorglich durch
Stützblätter vor dem Brechen bewahrt wird (vergl.
Abbildung 23) und wie sich zur wahrung des Gleich-
gewichtes die Zweige um den Stamm gleichmäßig
gruxpiren, so daß dieser einen wirksamen Schutz gegen
das Umknicken erhält. Aurz, es vollzieht sich die
Bildung der pflanze und ihrer einzelnen Teile gleich-
sam in derselben weise, wie der Baumeister nach den
Gesetzen der Statik sein Liaus errichtet.
wie aber an der pflanze ein Teil aus dem anderen
sich entwickelt, der Schaft aus der wurzel, die Äste
aus dem Schaft, die Blätter und Blüten aus den
Ästen usw., so soll auch eine kunstgewerbliche Form,
ein Ziermotiv organisch, man mächte sagen logisch
entwickelt sein. Als Beispiel für diesen Grundsatz
führt Meurer u. a. auch den herrlichen siebenarmigen
Bronze-Aandelaber im Mailänder Dom an. „wie
der Manzenschaft fest in der Lrde wurzelt, so beißen
und krallen sich vier xhantastische, mit ihren Leibern
und Schwanzvoluten nach oben gerichtete und mit
letzteren den Stengel emporschiebende und gleichzeitig
stützende geflügelte Drachentiere in den Boden und
das Grasornament seiner Basis fest. Mit den sie
untereinander durch flechtwerkartige Figuren und
ornamentreiches Geschnür festigenden Füllungen
bilden sie den glockenfärmig ausladenden, unerschütter-
lichen und unzerreißbaren Fuß für den aus ihnen er-
wachsenden, mit dem ersten Rnoten und seinen Stengel-
blättern heraustreibenden Schaft, dessen wuchs und
widerstandskraft sich in seiner ripxen- oder bündel-
artigen Ausbildung und dem Ansetzen kleiner Augen
verstärkt. So schießt er lebenskräftig der pflanze
gleich von Anoten zu Rnoten, die mit je vier nach
oben zu sich verjüngenden und verfeinernden Deck-
blättern gekrönt sind, weiter emxor; aus dem dritten
derselben entwickeln sich die ersten, gräßten Zweige
als Leuchterarme, unterstützt durch die deckenden Trag-
blätter. Das erste, symmetrische paar, wie die beiden
oberen aus zwei Rurven zu wohlgefälliger Linie ver-
bunden, wird wieder durch drei, dem Lsauptstamm-
motiv sich verjüngend nachbildende Rnoten, das zweite
und dritte des immer innerhalb des unteren liegenden
Ästexaares durch je zwei und einen Rnoten zäsirt -—
alle aber gleich dem Mittelschaft gixfeln an ihrem
oberen Gnde wie die j)flanze in dem reichstentwickelten
Gliede der Blume, welche bei jener in dem ihren
Mittelxunkt als letzten und höchsten Gndzweck ent-
springenden jAstill ebenso die Trägerin der Zdee
bildet, wie hier im Rronleuchter, wo sie zur Auf-
nahme für das Moment dient, welches die ganze
Lntwicklung dieses Runstwerks bedingte: für die licht-
spendende Rerze."
Nbb. 22. Lu dcm Nutsutzc „tlbcurcrs «cstrcbungcn um dus Studium
dcr ikaturkormcn". LrUiutcrung gicbc S. t20.
Diese meisterhafte Lrklärung des weltberühmten
Runstwerks sagt zugleich so recht deutlich, was Meurer
anstrebt. Das Runstwerk soll keine eigentliche Natur-
nachahmung sein, sondern „sich bei den intimsten
Naturanalogien in einer künstlerisch durchaus ver-
geistigten Gesamtform und in hochgradig und schön
stilisirtem Ornament aussxrechen." Auf dem von Meurer
betretenen wege wird der Bchüler ferner nicht nur
das Neue finden, sondern auch das Alte verstehen
lernen.
Diese aus dem Zwecke sich ergebende Gesetzmäßig-
keit der Bildung gelangt bei verschiedenen Lxemplaren
der einzelnen Arten niemals zu völlig übereinstimmen-
dem Ausdruck; immer werden einige Abweichungen
oder Besonderheiten dem einzelnen Lxemxlare ein in-
dividuelles Gepräge verleihen. Aber es läßt sich durch
Vergleich einer gräßeren Anzahl von Txemxlaren der
— ns —
Schüler soll nicht kopiren, sondern das Alte verstehen,
das Neue sinden lernen. Lr soll von vornherein zur
chelbständigkeit erzogen und angeleitet werden, aus
der Natur selbst zu schöpfen, soll von ihr nur lernen,
wie ein Grganisches sich gesetzmäßig, harmonisch und
ausdrucksvoll gestaltet, lernen, die an der Naturform
studirten Bildungsgesetze auch beim kunstgewerblichen
Bchaffen zu befolgen. Denn das Runstwerk soll keine
eigentliche Naturnachahmung sein, sondern sich bei
den intimsten Naturanalogien in einer künstlerisch
durchaus vergeistigten Gesamtform und in hochgradig
und schön stilisirtem Ornament aussprechen." Somit
verfolgt Nleurer in seinen Anleitungen zunächst mehr
künstlerisch-pädagogische als praktische Zwecke; indem
er den Bchüler aus das Gesetz- und Zweckmäßige in
dem Bau der pflanzen aufmerksam macht, will er
sein künstlerisches Lmxfinden in der kVeise bilden,
daß er die Analogien auf kunstgewerblichem Gebiete
erkennt und dem Naturvorbild entsprechend behandelt.
So muß denn der Bchüler zuerst mit den unab-
änderlichen Gesetzen vertraut werden, nach denen alles
Grganische sich bildet. Der Bau der pflanze von der
wurzel bis zur Blüte, wie jeder Teil aus dem vor-
hergehenden sich notwendig entwickelt, ist das gegebene
mustergiltige Beispiel; nicht minder jeder Teil für sich.
Die Naturform ist ja nicht willkürlich und zufällig,
sondern der sichtbare, zweckverkündende Ausdruck eines
in ihrem Znnern schaffenden lebendigen Gedankens,
den man als wille zum Leben bezeichnen mag. Diese
Zweckmäßigkeit giebt sich beispielsweise in der Art zu
erkennen, wie der vom Btamme sich ausbreitende
Zweig, bevor er kräftig geworden ist, sorglich durch
Stützblätter vor dem Brechen bewahrt wird (vergl.
Abbildung 23) und wie sich zur wahrung des Gleich-
gewichtes die Zweige um den Stamm gleichmäßig
gruxpiren, so daß dieser einen wirksamen Schutz gegen
das Umknicken erhält. Aurz, es vollzieht sich die
Bildung der pflanze und ihrer einzelnen Teile gleich-
sam in derselben weise, wie der Baumeister nach den
Gesetzen der Statik sein Liaus errichtet.
wie aber an der pflanze ein Teil aus dem anderen
sich entwickelt, der Schaft aus der wurzel, die Äste
aus dem Schaft, die Blätter und Blüten aus den
Ästen usw., so soll auch eine kunstgewerbliche Form,
ein Ziermotiv organisch, man mächte sagen logisch
entwickelt sein. Als Beispiel für diesen Grundsatz
führt Meurer u. a. auch den herrlichen siebenarmigen
Bronze-Aandelaber im Mailänder Dom an. „wie
der Manzenschaft fest in der Lrde wurzelt, so beißen
und krallen sich vier xhantastische, mit ihren Leibern
und Schwanzvoluten nach oben gerichtete und mit
letzteren den Stengel emporschiebende und gleichzeitig
stützende geflügelte Drachentiere in den Boden und
das Grasornament seiner Basis fest. Mit den sie
untereinander durch flechtwerkartige Figuren und
ornamentreiches Geschnür festigenden Füllungen
bilden sie den glockenfärmig ausladenden, unerschütter-
lichen und unzerreißbaren Fuß für den aus ihnen er-
wachsenden, mit dem ersten Rnoten und seinen Stengel-
blättern heraustreibenden Schaft, dessen wuchs und
widerstandskraft sich in seiner ripxen- oder bündel-
artigen Ausbildung und dem Ansetzen kleiner Augen
verstärkt. So schießt er lebenskräftig der pflanze
gleich von Anoten zu Rnoten, die mit je vier nach
oben zu sich verjüngenden und verfeinernden Deck-
blättern gekrönt sind, weiter emxor; aus dem dritten
derselben entwickeln sich die ersten, gräßten Zweige
als Leuchterarme, unterstützt durch die deckenden Trag-
blätter. Das erste, symmetrische paar, wie die beiden
oberen aus zwei Rurven zu wohlgefälliger Linie ver-
bunden, wird wieder durch drei, dem Lsauptstamm-
motiv sich verjüngend nachbildende Rnoten, das zweite
und dritte des immer innerhalb des unteren liegenden
Ästexaares durch je zwei und einen Rnoten zäsirt -—
alle aber gleich dem Mittelschaft gixfeln an ihrem
oberen Gnde wie die j)flanze in dem reichstentwickelten
Gliede der Blume, welche bei jener in dem ihren
Mittelxunkt als letzten und höchsten Gndzweck ent-
springenden jAstill ebenso die Trägerin der Zdee
bildet, wie hier im Rronleuchter, wo sie zur Auf-
nahme für das Moment dient, welches die ganze
Lntwicklung dieses Runstwerks bedingte: für die licht-
spendende Rerze."
Nbb. 22. Lu dcm Nutsutzc „tlbcurcrs «cstrcbungcn um dus Studium
dcr ikaturkormcn". LrUiutcrung gicbc S. t20.
Diese meisterhafte Lrklärung des weltberühmten
Runstwerks sagt zugleich so recht deutlich, was Meurer
anstrebt. Das Runstwerk soll keine eigentliche Natur-
nachahmung sein, sondern „sich bei den intimsten
Naturanalogien in einer künstlerisch durchaus ver-
geistigten Gesamtform und in hochgradig und schön
stilisirtem Ornament aussxrechen." Auf dem von Meurer
betretenen wege wird der Bchüler ferner nicht nur
das Neue finden, sondern auch das Alte verstehen
lernen.
Diese aus dem Zwecke sich ergebende Gesetzmäßig-
keit der Bildung gelangt bei verschiedenen Lxemplaren
der einzelnen Arten niemals zu völlig übereinstimmen-
dem Ausdruck; immer werden einige Abweichungen
oder Besonderheiten dem einzelnen Lxemxlare ein in-
dividuelles Gepräge verleihen. Aber es läßt sich durch
Vergleich einer gräßeren Anzahl von Txemxlaren der
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