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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 8.1897

DOI Artikel:
Minkus, Fritz: Die menschliche Figur als dekoratives Element, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4884#0210
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184

DIE MENSCHLICHE FIGUR ALS DEKORATIVES ELEMENT.

Wie wenig auch die Spätgotik zu einer tiefer-
gehenden, organischen Verbindung figuraler und vege-
tabilischer Motive
hinneigte, erhellt
schon daraus, dass d ie,
wie in obigen Fäl-
len, innerhalb pflanz-
licher Motive ange-
brachten mensch-
lichen Figuren stets
im Zeitkostüm dar-
gestellt wurden, und
dass demnach die
menschliche Figur
immer nur ein mehr
genrehafter Appen-
dix des betreffenden
Ornaments, niemals
ein wirkliches Ele-
ment desselben sein
konnte. — Auch den
phantastischen tier-
menschlichen Misch-
wesen, der Sphinx, der
Harpyie, der Sirene,
dem „Meerweibchen"
u. s. w., die seit den
Krouzzügen in der
Kunst (namentlich in
der Heraldik, z. B.
das im alten Wappen
von Palermo bereits
im 12. Jahrhundert
vorkommende Meer-
weib oder der „Jung-
frauenadler" (Har-
pyie) der Stadt Nürn-
berg) wieder eine be-
deutende Kolle spie-
len, und die in der
altrömischen Kunst
mit pflanzlichen Mo-
tiven zu den Gro-
tesken verschmolzen
waren, beließ die
Gotik ihren Selbst-
wert und verwendete
sie stets nur als Ein-
zeldarstellungen^.B.
dieSirenenundSphin-
gen an einem in
Seemann's Kunsthist.

Bilderb. Nr. 153 abgebildeten Reliquienkästchen des
14. Jahrhunderts).

Diese eigenartigen Verbindungen tierischer und

Auc^as1

menschlicher Formen haben aber die gotische Kunst
etwa seit Anfang des 14. Jahrhunderts zu einer völlig

neuen, ungemein ori-
ginellen ornamen-
talen Ver wertun g der
menschlichen Figur
angeregt: zur Schaf-
fung der Drolerie.

Bereits die frühe
Gotik hatte die Ini-
tialen ihrer Hand-
schriften, neben den
größeren, inhaltsvol-
len Darstellungen,die
sie oft enthielten, mit
launischen Figürchen
bevölkert, die keine
tiefere, erzählende
Bedeutung besaßen,
sondern lediglich
dekorativ wirken soll-
ten; gewöhnlich spa-
ziren diese meist
spaßhaften Gestalten
auf den ornamentalen
Ausläufern des Ini-
tials herum, wie bei-
spielsweise in der im
Jahre 1258 geschrie-
benen Jaromier'schen
Bibel des Prager
böhmischen Museums
ein kleines, mit einer
Narrenkappe verse-
henes Männchen, das,
ein Kind im Arme
haltend, aus einer
Schale trinkend, mit
einem dickenKnüppel
in der Hand, auf dem
Schnörkel eines C für-
bass schreitet (vergl.
Bucher, Bd. I,Fig.48).
Diese scherzhaften
Darstellungen wur-
den nun mit tierischen
Formen kombinirt,
und so entstanden die
köstlichsten, oft auch
scharf sarkastischen
Karikaturen,in denen
namentlich die Ver-
bindung von Bischofs- und Mönchsgestalten mit Tier-
leibern — und dies in Gebetbüchern! — beliebt waren
(vergl. z. B. die bei Woltmann-Woermann, Geschichte

,Vas>er,v

Kunstgewerbe, allegorische Skizze, gezeichnet von August Glasee, München.
 
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