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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 13.1902

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Berlepsch-Valendas, Hans E. von: Ansichten
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https://doi.org/10.11588/diglit.4880#0150

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ANSICHTEN

H. E. v. BERLEPSCH-VALENDAS, SPEISEZIMMER,
AUSGEFÜHRT VON M. BALLIN IN MÜNCHEN

oder durch die programmmässig betonte und durch-
geführte, heute noch allerwärts in Deutschland sank-
tionierte Bevorzugung absolut einseitiger Verstandes-
thätigkeit eindämmt, so lange werden alle Bemühungen,
die Kunst, vor allem auch die dekorativen Künste,
in wirklich grosse Bahnen zu leiten, nur schwachen
Erfolg nach sich ziehen. Hat die Anschauung ein-
mal Wurzel geschlagen, die gesunde Ausbildung der
Sinne sei einer der wesentlichen Faktoren in Bezug
auf wahre Bildung, und sie zu pflegen sei eine Grund-
bedingung, um die gestaltende Kraft nach jeder Seite
hin auf eine hohe Stufe zu heben, nicht bloss in
künstlerisch-bildender Hinsicht, so ist der wichtigste
Schritt zur Besserung gethan. Mit der Einführung
des Menschen in die Kreise geschärfter Anschauung
wird heute noch zugewartet bis zu einem Alter, wo
bereits Jahre und Jahre der besten Entwickelungszeit
vorüber sind, statt dass die Anregung schon in eine
Lebens-Periode eingeflochten wird, wo sie leicht auf-
genommen, leicht weiter gebildet und zur Selbstän-
digkeit herangezogen werden kann. Geschähe das,
dann würden sich über so manches richtige Begriffe
von selbst ergeben, was Vielen als gesetzmässig
zwar erklärt, in den meisten Fällen aber nicht von
ihnen verstanden wird, weil der Grundsatz noch
nicht allgemein verstanden wird: Was natürlich ist,

ist auch gesetzmässig. Gesetzmässigkeit
aber ist der mächtigste Faktor der Kunst,
die immer und immer wieder ihren Rück-
halt in der Natur findet und sie in immer
wieder neuer Weise interpretiert.

Jeder Bildungsgang, heisse er nun wie
er wolle, leidet an einem fundamentalen
Mangel, wenn das Lernen nicht verknüpft
ist mit der Erwerbung des Erkennens.
Jede Wissenschaft hat ihren gegliederten
Bau, jede Sprache ihr grammatikalisches
Gesetz, das sich auf natürlichen, nicht
auf vorschriftsmässigen Grundsätzen auf-
baut, genau wie die Systeme, die der
Materie den Ausdruck des Lebewesens
geben. Statt mit dem, was dem Menschen
und seinem Begriffsvermögen in sichtbarer
Weise leicht zugänglich zu machen ist,
zu beginnen und ihm die Logik alles
Werdens am Beispiele zu zeigen, setzt
unser Ausbildungs-Prozess zuerst ein mit
dem Auswendiglernen von Formen, deren
Wesenserklärung Jahre und Jahre bean-
sprucht. Und ist das überwunden, dann
kommt der Segen von der »Maturität«,
die manchen wohl berechtigt; die Befähi-
gung aber ist in den seltensten Fällen in
Frage gezogen worden und darin liegt
die grosse Verkehrtheit, die auch einmal
ihre Früchte bringen wird.

Noch ein anderer Umstand aber muss
aus der Welt geschafft werden. Kürzlich
stand in dem Berichte eines deutschen
Akademiedirektors zu lesen, dass die Schaf-
fung kunstgewerblicher Lehrwerkstätten
schon deshalb zu empfehlen sei, weil damit jenen,
die für die »hohe Kunst« als nicht genügend talentiert
erscheinen, eine Möglichkeit gegeben sei, sich den-
noch eine Existenz zu schaffen! Da liegt des Pudels
Kern! Als ob einer, der in Kupfer, in Silber oder
Gold treibt, sein Eisen auf dem Ambos schmiedet
oder allen möglichen Geweben allerlei Bildwerk ein-
fügt, weniger können müsste als andere, die ihre
Arbeit in geweihten Atelierräumen herstellen! Wenn
dergleichen Ansichten von den Stellen ausgehen, wo
man eigentliches Verständnis voraussetzen könnte,
dann freilich ist es kein Wunder, wenn auch das
Publikum die dekorativen Künste als etwas ansieht,
das schon von Ursprung an den Stempel »zweiter
Qualität« an sich trägt. Wie würde ein gebildeter
Japaner über solch akademische Hochnäsigkeit lachen!
Wie ein Renaissancekünstler oder ein Hellene davon
denken! Je nun — die Verhältnisse sind nicht mehr
die gleichen. Um in vergangenen grossen Kunst-
epochen als Künstler genannt zu werden, musste man
die Kuppel über dem Dome von Florenz gebaut,
eine Reiterfigur wie den Gattamelata gebildet, oder
einen Tempel gebaut haben, auf dessen Götterbild
Millionen die Blicke richteten und es als ein Werk,
künstlerischem Geist entsprungen, bewunderten. Heut
ist der Ruhm etwas billiger. Er ist unter Umständen
 
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