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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 27.1915/​1916

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Raphaël, Gaston: Gewerbeschulen und Kunstgewerbe in Deutschland: Auszug aus einem an den Minister des öffentlichen Unterrichts erstatteten Bericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.4828#0104

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Die Frage ist heute zweifellos entschieden. Lest alle Lehr-
pläne durch und alle werden euch sagen, die Fachbildung
voran! Sie bildet den Kernpunkt des Unterrichts in allen
Fortbildungsschulen. Und bestimmen wir nur die Be-
deutung dieser Forderung genauer. Technisch wird ein
Fachunterricht immer noch bestehen können, wenn er
durch eingehende Erläuterungen an der Tafel und aus
Büchern oder umfassende Beschreibungen über die beste
Art, eine Arbeit auszuführen, vermittelt; aber hier handelt
es sich um etwas ganz anderes. Der Unterricht soll ge-
tragen werden von der Arbeit in der Werkstatt und sich
bis zu einem gewissen Grade beständig auf sie stützen.
Gewiß, man verhilft dem Lehrling zu Kenntnissen über die
Zweige seines Handwerks, die ihm wegen der außer-
ordentlichen Vielseitigkeit der modernen Industrie not-
wendigerweise unbekannt bleiben müssen, aber immer wird
ihm sein Arbeitstisch, seine Maschine, oder seine tägliche
Arbeitsleistung zum Ausgangspunkte dienen. Auf diesem
Wege ist München allen anderen Städten vorausgeeilt. Die
Stadtverwaltung hat, um jede der vier großen Fortbildungs-
schulen mit Maschinen, Werkstätten und den für jedes
Handwerk nötigen Einrichtungen zu versehen, die be-
deutendsten Unkosten nicht gescheut. Und hier in diesen
Werkstätten wird der technische Unterricht erteilt. Von
anderen Städten, wie Leipzig, das solche Gewerbeschulen
erst in diesem Jahre eingerichtet hat, sind so große Aus-
gaben nicht gemacht worden, da man meinte, es lohne
sich wegen der 2—3 Stunden wöchentlich, die der Lehr-
ling in der Fortbildungsschule zubringt, nicht, und die
Werkstatt und die Lehre seines Meisters versorgten ihn
hinreichend mit technischem Können. Aber nichtsdesto-
weniger wird auch hier das vorerwähnte Prinzip in seiner
ganzen Kraft aufrecht erhalten. Der Unterricht, der in
diesen Schulen erteilt wird, soll vor allem praktisch sein.
Und es ist das betreffende Handwerk selbst, das dem
Unterricht verschiedene Formen und verschiedenen Inhalt
vorschreibt. Aufsatzthemen, Geometriearbeiten, Zeichnen,
Rechnen, Geographie, alle diese Stoffe werden sich dem
bestimmten Fach oder Handwerk anpassen müssen. Man
wird tüchtige Handwerker und zugleich gute deutsche Bürger
heranbilden.

Es versteht sich von selbst, daß dieselbe Tendenz den
höheren Schulen zugrunde liegt. Alle neuen Realschulen
sind mit Laboratorien, Werkstätten, ja selbst mit Maschinen,
Werkzeugen und den modernsten Erfordernissen der In-
dustrie ausgerüstet. Dasselbe gilt eigentlich für die meisten
Kunstgewerbeschulen. Manche von ihnen besitzen freilich
die Einrichtungen, um die Entwürfe der Schüler auszu-
führen, noch nicht, aber sie stehen entweder im Begriffe,
sie anzuschaffen (Stuttgart hat eine Summe von 5 Millionen
Mark ausgesetzt, um Schule und Werkstätten in einem
Haus zu vereinigen), oder aber die Schulen finden ganz
in der Nähe, in der Stadt selbst oder in deren nächster
Umgebung die Werkstätten, die sie brauchen. Und noch
an vielen anderen Einrichtungen erkennt man diese Tendenz
zum Praktischen. Alle Zeichnungen werden natürlich nach
der Natur ausgeführt und alle Gegenstände von dem Ge-
sichtspunkte aus betrachtet und behandelt, wie sie sich für
das trägliche Leben nützlich erweisen. Die verschiedenen
Kurse und Werkstätten werden den betreffenden Orten
angepaßt (Bücher und Maschinen in Leipzig, Malerei und
Färberei in Krefeld usw.) und je nach Maßgabe des Be-
dürfnisses und der zur Verfügung stehenden Geldmittel
eingerichtet. Die Schulen nehmen nicht allein Aufträge
an, sondern sie bemühen sich darum, ihre Schüler an die
broterwerbende Arbeit zu gewöhnen; und die hierdurch
gewonnenen Mittel dienen zur Verstärkung des Budgets.
Man versucht den Schülern begreiflich zu machen, daß

jedes Stück durch das Zusammenwirken von mehreren
Künsten entstehen, und daß eine für die andere arbeiten
muß. Man lehrt sie endlich, ein Stück nicht als abge-
sondert für sich bestehend zu betrachten, sondern als Teil
eines Ganzen, dem es sich anpassen muß.

Und so erlebte man eine Reaktion gegen die über-
triebene Spezialisierung und zugleich ein merkwürdiges
Zurück zu jenen alten Zeiten, wo Schöpfer und Arbeiter
in einer Person vereinigt waren. Die Schranke, die lange
Zeit den Künstler vom Arbeiter trennte, soll fallen, ja selbst
zwischen Erfinder und Ausführenden soll es keine Trennung
mehr geben. Es geschieht immer häufiger, daß derselbe
Mann, der den Bauplan zu seinem Hause entwirft, auch
die Möbel dafür zeichnet und die Räume dekoriert. Hierzu
haben alle bedeutenden Lehrer ein Beispiel gegeben. Ob
Maler, ob Architekt, Bildhauer oder Ziseleur, sie haben
alle, einer nach dem andern, die Ausführung eines ganzen
Hauses übernommen. Und ihre Schüler versuchen alle
durch die Bank, ohne ihre ursprüngliche Spezialität auf-
geben zu wollen, nicht Dekorateure, aber Architekten und
wohl auch ein bißchen Ingenieur zu sein.

Diese Tendenz zum Praktischen ist auch maßgebend
bei der Einteilung der Schüler und der Lehrer. In den
Fortbildungsschulen kann von einer Anzahl der Schüler
nicht die Rede sein, denn alle Lehrlinge von 13 bis 18Jahren
sind zum Besuche dieser Schulen verpflichtet. Aber, was
hier sofort ins Auge fällt, ist die strenge Gruppierung
der Kinder nach Handwerken. Um den Unterricht mög-
lichst zweckdienlich zu gestalten, vereinigt man, soweit
es möglich ist, nur die Lehrlinge derselben Handwerke.
Sobald eine Stadt groß genug ist, um gegen 25 Lehrlinge
desselben Handwerks zu stellen, wird ihnen eine besondere
Klasse, oft sogar in einem besonderen Gebäude einge-
richtet. Wenn manche auf diese Weise gezwungen werden,
einen langen Weg zu machen, so müssen sie sich darin
schicken. Die Stadtverwaltung erwirkt zunächst von Straßen-
bahnen oder anderen Verkehrsgesellschaften Preisermäßi-
gungen zu ihren Gunsten. In München z. B. erhalten die
Lehrlinge Monatskarten zu einer Mark, auf denen sie zu
gewissen Tageszeiten den Weg von ihrer Wohnung zur
Fortbildungsschule und zurück machen können. Und in
diesen Städten sind Kurse für jeden Beruf ohne Ausnahme
eingerichtet, gleichviel, ob für Zuckerbäcker, Kellner oder
Zahntechniker. In kleineren Städten werden die Lehrlinge
von verwandten Handwerken zusammengetan (Tischler,
Zimmerleute, Drechsler usw.), und in Übereinstimmung mit
dem Meister werden die Stunden für den Unterricht fest-
gesetzt, wo die Lehrlinge in der Werkstatt am besten ent-
behrt werden können. Wenn die Anzahl der Lehrlinge
sehr groß ist, kommt es wohl auch vor, daß die Kurse
zwei- bis dreimal am Tage wiederholt werden; dadurch
wird dem Meister, der zwei oder drei Lehrlinge hat, die
Möglichkeit gegeben, immer zwei bis drei in der Werkstatt
zu beschäftigen. Und da die Abendstunden, d. h. die
Stunden nach acht Uhr fast überall als Unterrichtsstunden
verboten sind, so verfügen die Lehrer über gleichartige und
frische Klassen, in denen eine ersprießliche Arbeit möglich ist.

Die Innungsschulen, die noch außerdem bestehen, die
königlichen oder städtischen Gewerbeschulen wählen ihre
Schüler aus. Sie verlangen natürlich genügende Vorkennt-
nisse und vor allem genügende Fähigkeiten. Aber was
wir uns hier besonders merken wollen, ist der Umstand,
daß die Schüler, die hier aufgenommen werden, meist 15,
selten 14, oft aber auch 16 oder 17 Jahre alt sind. Und
da der Kursus in diesen Schulen fast immer vier Jahre
dauert, darf man annehmen, daß das Durchschnittsalter der

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