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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 28.1917

DOI Artikel:
Jessen, Peter: Reisestudien, [5]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4829#0130

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Gang im Kloster der westlichen Honganjisekte in Kioto

Gestalt. Erst neuerdings haben heimische und fremde Ge-
lehrte den unermeßlichen Bestand zu ordnen gesucht, voran
Professor Ito, der leitende Mann des obengenannten Werkes.
Wir haben gelernt, von der früher allein gültigen Verfallkunst
der Tokugawazeit (17. Jahrhundert) die edleren Bildungen des
Mittelalters zu unterscheiden.

Bei erstmaligem Besuche wird freilich, nicht zum Schaden
des Gesamteindruckes, zuerst das viele Gemeinsame in die
Augen fallen. Vorab wiederum die Meisterschaft der Ein-
gliederung in das Gelände. Dann die bald lockere, bald strenge
Gruppierung der mannigfachen Gebäude. Ferner das Hand-
werkliche der Zimmerei, die ihresgleichen sucht auf der Welt;
die oft grandiose Raumwirkung und die bei allem Wechsel
des Geschmackes stets anziehenden Dekorationen. Ich habe
durch die feierlichen Tore die weiträumig umfriedigten Höfe
mit ihren Umgängen und den hohen Wipfeln des Baum-
bestandes nie ohne ein Gefühl der Weihe betreten können,
andächtiger vielleicht als mancher Landesbewohner, dessen
Verhältnis zu seinen Göttern oft recht äußerlich bleibt. Da-
gegen wird der Aufstieg auf die Basis der Tempel selber und
der Einblick oder Eintritt in die Halle mit ihren stolzen Holz-
pfeilern, dem oben offenen Dachstuhl oder der blinkenden
Kassettendecke meist durch Äußerlichkeiten gestört, das Ab-
streifen des Schuhwerkes, den zwanglosen Verkehr des Volkes
mit Kind und Kegel, das Geklapper der Opfergelder, bisweilen
auch das aufdringliche Heischen der Trinkgelder. Allein das
Bild einer volksreichen Andacht, wie ich sie in der riesigen, vornehmen Halle des Honganjitempels in Nagoya
erlebte, haftet unauslöschlich; und einige Innenräume mit ihrem leuchtenden Lackbezug und den blitzenden
Goldbronzen rufen unwiderstehlich die Erinnerung an San Marco wach.

Anziehend ist es, wie sich bei näherem Umgang dieses Gemeinsame in einprägsame Unterschiede auflöst.
Wie schon die Bedachungen wechseln, ähnlich wie bei dem Wohnhaus, von Grassoden, Reisstroh, Binsen,
Schindeln und der eigentümlichen Rinde der Zypresse bis zu stumpf oder blank glasierten Ziegeln mit Firstreihen,
Eckgraten, Traufkanten. Wie fein die geraden Linien oder kecken Schwingungen der Dächer zueinander stimmen,
mannigfach umrissen als Satteldächer oder Walmdächer oder als freiere Gruppen. Wie das Leitmotiv des
japanischen Tempelbaus, die verschiedentlichst auskragenden Konsolen, sich zu phantastischem Zierat ausweiten,
wie endlich auch die Wände vielerlei Wechsel zeigen. Noch stehen vereinzelt Blockbauten, besonders Vorrats-
häuser; noch tragen Schintotempel nach uralter Weise über ihrem First die beschwerenden Querhölzer und
eigentümlichen Sattelkreuze; noch sieht man in entlegenen Bezirken Holzformen von altertümlicher Strenge.
Niemand wird versäumen, von Nara aus die schön gruppierten, fein gegliederten ältesten Holzbauten Japans,
das ehrwürdige Kloster Horiuji, aufzusuchen oder von Kioto aus die köstliche Tempelanlage Byodo-in in Uji
mit den seltsamen Flügelhallen und den Resten
edlen Schmuckes in der berühmten Phönixhalle,
in Nara die überwältigende Fülle mittelalterlicher
Typen und in Kamakura die architektonisch reifen
Gestaltungen der letzten wahrhaft großen Epoche.
Erst an diesen Bauten der älteren Zeiten gewinnt
man den Maßstab für die gepriesenen und über-
schätzten Gräber und Tempel der Tokugawazeit.

Und doch wird niemand es bereuen, den
Tempel- und Gräberbezirken von Nikko den
einen oder anderen Tag gewidmet zu haben.
Wer aufs Große geht, vergißt auch hier die kleinen
Einzelheiten über der hohen Würde des Ganzen,
der erhabenen Natur und dem, was Menschenhand
nicht nur an Tempeln, sondern vor allem an
gewaltigen Mauern, luftigen Treppen und an so
manchem bescheideneren Nebenbau ihr eingefügt
hat. Er wird auch diese Note in dem Vollklange
japanischer Tempelkunst nicht missen wollen.

PETER JESSEN. Saal im Honganji-Kloster in Kioto

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